Page - 35 - in Briefe an den Vater
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Der Grundgedanke beider Heiratsversuche war ganz korrekt: einen
Hausstand gründen, selbständig werden. Ein Gedanke, der Dir ja sympathisch
ist, nur daß es dann in Wirklichkeit so ausfällt wie das Kinderspiel, wo einer
die Hand des anderen hält und sogar preßt und dabei ruft: »Ach geh doch, geh
doch, warum gehst Du nicht?« Was sich allerdings in unserem Fall dadurch
kompliziert hat, daß Du das »geh doch!« seit jeher ehrlich gemeint hast, da
Du ebenso seit jeher, ohne es zu wissen, nur kraft Deines Wesens mich
gehalten oder richtiger niedergehalten hast.
Beide Mädchen waren zwar durch den Zufall, aber außerordentlich gut
gewählt. Wieder ein Zeichen Deines vollständigen Mißverstehns, daß Du
glauben kannst, ich, der Ängstliche, Zögernde, Verdächtigende entschließe
mich mit einem Ruck für eine Heirat, etwa aus Entzücken über eine Bluse.
Beide Ehen wären vielmehr Vernunftehen geworden, soweit damit gesagt ist,
daß Tag und Nacht, das erste Mal Jahre, das zweite Mal Monate, alle meine
Denkkraft an den Plan gewendet worden ist.
Keines der Mädchen hat mich enttäuscht, nur ich sie beide. Mein Urteil
über sie ist heute genau das gleiche wie damals, als ich sie heiraten wollte.
Es ist auch nicht so, daß ich beim zweiten Heiratsversuch die Erfahrungen
des ersten Versuches mißachtet hätte, also leichtsinnig gewesen wäre. Die
Fälle waren eben ganz verschieden, gerade die früheren Erfahrungen konnten
mir im zweiten Fall, der überhaupt viel aussichtsreicher war, Hoffnung geben.
Von Einzelheiten will ich hier nicht reden.
Warum also habe ich nicht geheiratet? Es gab einzelne Hindernisse wie
überall, aber im Nehmen solcher Hindernisse besteht ja das Leben. Das
wesentliche, vom einzelnen Fall leider unabhängige Hindernis war aber, daß
ich offenbar geistig unfähig bin zu heiraten. Das äußert sich darin, daß ich
von dem Augenblick an, in dem ich mich entschließe zu heiraten, nicht mehr
schlafen kann, der Kopf glüht bei Tag und Nacht, es ist kein Leben mehr, ich
schwanke verzweifelt herum. Es sind das nicht eigentlich Sorgen, die das
verursachen, zwar laufen auch entsprechend meiner Schwerblütigkeit und
Pedanterie unzählige Sorgen mit, aber sie sind nicht das Entscheidende, sie
vollenden zwar wie Würmer die Arbeit am Leichnam, aber entscheidend
getroffen bin ich von anderem. Es ist der allgemeine Druck der Angst, der
Schwäche, der Selbstmißachtung.
Ich will es näher zu erklären versuchen: Hier beim Heiratsversuch trifft in
meinen Beziehungen zu Dir zweierlei scheinbar Entgegengesetztes so stark
wie nirgends sonst zusammen. Die Heirat ist gewiß die Bürgschaft für die
schärfste Selbstbefreiung und Unabhängigkeit. Ich hätte eine Familie, das
Höchste, was man meiner Meinung nach erreichen kann, also auch das
Höchste, das Du erreicht hast, ich wäre Dir ebenbürtig, alle alte und ewig
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Briefe an den Vater
- Title
- Briefe an den Vater
- Author
- Franz Kafka
- Date
- 1919
- Language
- German
- License
- PD
- Size
- 21.0 x 29.7 cm
- Pages
- 40
- Categories
- Weiteres Belletristik