Page - 38 - in Briefe an den Vater
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der Nähe einen von Dir sehr verschiedenen zu nennen: Onkel Richard) und
doch geheiratet haben und wenigstens darunter nicht zusammengebrochen
sind, was schon sehr viel ist und mir reichlich genügt hätte. Aber diese Frage
stellte ich eben nicht, sondern erlebte sie von Kindheit an. Ich prüfte mich ja
nicht erst gegenüber der Ehe, sondern gegenüber jeder Kleinigkeit; gegenüber
jeder Kleinigkeit überzeugtest Du mich durch Dein Beispiel und durch Deine
Erziehung, so wie ich es zu beschreiben versucht habe, von meiner
Unfähigkeit, und was bei jeder Kleinigkeit stimmte und Dir recht gab, mußte
natürlich ungeheuerlich stimmen vor dem Größten, also vor der Ehe. Bis zu
den Heiratsversuchen bin ich aufgewachsen etwa wie ein Geschäftsmann, der
zwar mit Sorgen und schlimmen Ahnungen, aber ohne genaue Buchführung
in den Tag hineinlebt. Er hat ein paar kleine Gewinne, die er infolge ihrer
Seltenheit in seiner Vorstellung immerfort hätschelt und übertreibt, und sonst
nur tägliche Verluste. Alles wird eingetragen, aber niemals bilanziert. Jetzt
kommt der Zwang zur Bilanz, das heißt der Heiratsversuch. Und es ist bei den
großen Summen, mit denen hier zu rechnen ist, so, als ob niemals auch nur
der kleinste Gewinn gewesen wäre, alles eine einzige große Schuld. Und jetzt
heirate, ohne wahnsinnig zu werden!
So endet mein bisheriges Leben mit Dir, und solche Aussichten trägt es in
sich für die Zukunft.
Du könntest, wenn Du meine Begründung der Furcht, die ich vor Dir habe,
überblickst, antworten: »Du behauptest, ich mache es mir leicht, wenn ich
mein Verhältnis zu Dir einfach durch Dein Verschulden erkläre, ich aber
glaube, daß Du trotz äußerlicher Anstrengung es Dir zumindest nicht
schwerer, aber viel einträglicher machst. Zuerst lehnst auch Du jede Schuld
und Verantwortung von Dir ab, darin ist also unser Verfahren das gleiche.
Während ich aber dann so offen, wie ich es auch meine, die alleinige Schuld
Dir zuschreibe, willst Du gleichzeitig ›übergescheit‹ und ›überzärtlich‹ sein
und auch mich von jeder Schuld freisprechen. Natürlich gelingt Dir das
letztere nur scheinbar (mehr willst Du ja auch nicht), und es ergibt sich
zwischen den Zeilen trotz aller ›Redensarten‹ von Wesen und Natur und
Gegensatz und Hilflosigkeit, daß eigentlich ich der Angreifer gewesen bin,
während alles, was Du getrieben hast, nur Selbstwehr war. Jetzt hättest Du
also schon durch Deine Unaufrichtigkeit genug erreicht, denn Du hast
dreierlei bewiesen, erstens daß Du unschuldig bist, zweitens daß ich schuldig
bin und drittens daß Du aus lauter Großartigkeit bereit bist, nicht nur mir zu
verzeihn, sondern, was mehr und weniger ist, auch noch zu beweisen und es
selbst glauben zu wollen, daß ich, allerdings entgegen der Wahrheit, auch
unschuldig bin. Das könnte Dir jetzt schon genügen, aber es genügt Dir noch
nicht. Du hast es Dir nämlich in den Kopf gesetzt, ganz und gar von mir leben
zu wollen. Ich gebe zu, daß wir miteinander kämpfen, aber es gibt zweierlei
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Briefe an den Vater
- Title
- Briefe an den Vater
- Author
- Franz Kafka
- Date
- 1919
- Language
- German
- License
- PD
- Size
- 21.0 x 29.7 cm
- Pages
- 40
- Categories
- Weiteres Belletristik