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sierungsverbotes. Das erste Prinzip untersagt jede Bewertung des menschli-
chen Lebens nach Kriterien der Nützlichkeit, des Alters, des sozialen Ran-
ges, der ethnischen Zugehörigkeit oder des Geschlechts. Dieses fundamen-
tale Bewertungsverbot ergibt sich unmittelbar aus dem Gleichheitsgrund-
satz der Verfassung, demzufolge jedes menschliche Leben den gleichen
Schutz genießt. Damit ist jede Abwägung gemäß einem utilitaristischen
Nutzenkriterium – etwa im Sinne einer höheren Zahl geretteter Patienten
oder der Maximierung gewonnener Lebensjahre – untersagt. Zugleich darf
in Situationen, in denen Leben gegen Leben steht, niemand als Mittel zum
Zweck der Lebensrettung anderer benutzt werden. Selbstverständlich
muss es das Ziel aller getroffenen Maßnahmen sein, so viele Menschenle-
ben wie möglich zu retten. Doch muss sich die gewählte Vorgehensweise
zwingend innerhalb des durch die Grundrechte aller Beteiligten gezoge-
nen verfassungsrechtlichen Rahmens bewegen, die auch in Notsituationen
niemals außer Kraft gesetzt werden können. „Auch persönliche ethische
Überzeugungen, die etwa eine reine Ergebnisorientierung und mit ihr die
unbedingte Maximierung der Zahl geretteter Menschenleben fordern mö-
gen, können ein Handeln, das die skizzierten Grenzen des Verfassungs-
rechts überschritte, nicht rechtfertigen.“ (S.4)
Wie in der medizinethischen Fachliteratur üblich, unterscheidet die
Stellungnahme zwei Fallgruppen, in denen Priorisierungsentscheidungen
getroffen werden müssen: eine Triage bei Ex-ante-Konkurrenz und die
Triage bei Ex-post-Konkurrenz. In seiner Begründung, warum Triage-
Entscheidungen im ersten Fall möglich sind, bleiben die Ausführungen
der Stellungnahme allerdings vage und unbestimmt. Über den Grundsatz
hinaus, dass niemand zu Unmöglichem verpflichtet sein kann, wird nur
gefordert, dass die Entscheidung aus ethischer Sicht nach wohlüberlegten,
einheitlichen und transparenten Kriterien erfolgen sollte. Welche Regeln
dafür in Frage kommen, erfährt der Leser hingegen nicht. Die Rechtsord-
nung kann für derartige dilemmatische Situationen ohnehin keine positi-
ven Entscheidungshilfen geben. An dieser Stelle wären weitere ethische
Überlegungen darüber notwendig gewesen, warum Priorisierungsentschei-
dungen vor Aufnahme der Behandlung erlaubt und oftmals sogar geboten
sein könnten. Diese widersprechen nämlich nicht dem strikten Verbot,
den Wert des Lebens eines Menschen im Vergleich zu dem eines anderen
zu beurteilen, etwa indem das Leben einer 45-jährigen Mutter dem eines
85-jährigen Rentners vorgezogen würde. Beurteilt wird bei einer Triage-
Entscheidung nicht der Wert der in Konkurrenz zueinander stehenden be-
handlungsbedürftigen Personen, sondern die Aussicht darauf, dass eine
mögliche Behandlung ihr erhofftes Ziel auch tatsächlich erreichen kann,
Die Ad-hoc-Empfehlung des Deutschen Ethikrats zur Corona-Pandemie
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https://doi.org/10.5771/9783748910589, am 02.10.2020, 10:33:08
Open Access - - https://www.nomos-elibrary.de/agb
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Die Corona-Pandemie
Ethische, gesellschaftliche und theologische Reflexionen einer Krise
- Title
- Die Corona-Pandemie
- Subtitle
- Ethische, gesellschaftliche und theologische Reflexionen einer Krise
- Authors
- Wolfgang Kröll
- Johann Platzer
- Hans-Walter Ruckenbauer
- Editor
- Walter Schaupp
- Publisher
- Nomos Verlagsgesellschaft
- Location
- Baden-Baden
- Date
- 2020
- Language
- German
- License
- CC BY-NC-ND 4.0
- ISBN
- 978-3-7489-1058-9
- Size
- 15.3 x 22.7 cm
- Pages
- 448
- Keywords
- Philosophie, Theologie, Gesellschaft, Gesundheitssystem, Biopolitik, Menschenwürde, Bioethik, Intensivmedizin, Gesundheitsethik, Covid-19, Triage, Ethik, Strafrecht und Grundrechte, Krankenhausseelsorge, Spiritual Care, Pflegeheim, Social Distancing
- Categories
- Coronavirus
- Medizin
- Recht und Politik