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Kompensationsfähigkeit der Organe jedoch erheblich reduziert sein,
sodass auch ein primär erfolgreicher Eingriff bei einem präinterventio-
nell scheinbar Gesunden infolge einer Organdekompensation nicht
überlebt wird. Erschwerend kommt dazu, dass alte Menschen in deut-
lich über 50 Prozent der Fälle relevante Komorbiditäten haben, welche
die Prognose negativ beeinflussen (Schweizerische Akademie der Me-
dizinischen Wissenschaften 2013).
Für den Beginn oder die Fortführung einer intensivmedizinischen Thera-
pie ist unabhängig vom Alter stets eine sorgfältige Analyse der individuel-
len Prognose eines Patienten erforderlich, dies gilt in Zeiten einer Pande-
mie ebenso wie unter normalen Bedingungen im Gesundheitswesen.
Das pure Überleben ist nicht das alleinige Ziel der Intensivmedizin
Mit der Entwicklung der Intensivmedizin ist es möglich geworden, Vital-
funktionen zu stabilisieren und aufrecht zu erhalten, auch wenn die lang-
fristige Überlebenswahrscheinlichkeit äußerst gering ist oder mit schwers-
ten Funktionseinschränkungen bis hin zum irreversiblen Koma verbunden
ist. Eine intensivmedizinisch zu behandelnde Erkrankung kann, über die
Frage des puren Überlebens hinaus, schwerwiegende und nachhaltige Fol-
gen nach sich ziehen. Besonders massiv betroffen sind Patienten, deren
Zustand als chronische kritische Erkrankung bezeichnet wird. Diese Pati-
enten sind auch nach der eigentlichen intensivmedizinischen Behandlung
von intensivmedizinischen Maßnahmen und einer entsprechenden Pfle-
geintensität abhängig (z. B. Langzeitbeatmung, anhaltendes Koma, etc.).
Eine alleinige Fokussierung auf das Überleben vernachlässigt wesentliche
Aspekte menschlicher Existenz. Der Mensch als ein sich seiner selbst be-
wusstes und soziales Wesen ist mehr als die Summe physiologischer Funk-
tionen. Die Aufrechterhaltung von Lebensfunktionen ist zwar die Grund-
lage für eine weitere Lebensperspektive, aber nicht die eigentliche Lebens-
perspektive. Daraus ergeben sich für die Intensivmedizin zwei wesentliche
Fragestellungen: Erstens, das Überleben zu sichern kann mit intensivmedi-
zinischen Maßnahmen machbar sein, aber ist es auch immer sinnhaft?
Zweitens, was kann die Intensivmedizin dazu beitragen, über das pure
Überleben hinaus auch eine Lebensperspektive aufrecht zu erhalten? Nun
ist der Begriff „Lebensperspektive“ nicht nur vielschichtig, sondern be-
inhaltet auch eine subjektive Komponente. Trotzdem tritt im Kontext
einer Pandemie eine weitere „nicht-subjektive“ Ebene hinzu. Konkret die
Frage nach einem Ressourceneinsatz bei jenen Patienten, die auf eine sehr
3.1.3 Rationalisierung vor Rationierung
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https://doi.org/10.5771/9783748910589, am 02.10.2020, 10:33:08
Open Access - - https://www.nomos-elibrary.de/agb
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Die Corona-Pandemie
Ethische, gesellschaftliche und theologische Reflexionen einer Krise
- Title
- Die Corona-Pandemie
- Subtitle
- Ethische, gesellschaftliche und theologische Reflexionen einer Krise
- Authors
- Wolfgang Kröll
- Johann Platzer
- Hans-Walter Ruckenbauer
- Editor
- Walter Schaupp
- Publisher
- Nomos Verlagsgesellschaft
- Location
- Baden-Baden
- Date
- 2020
- Language
- German
- License
- CC BY-NC-ND 4.0
- ISBN
- 978-3-7489-1058-9
- Size
- 15.3 x 22.7 cm
- Pages
- 448
- Keywords
- Philosophie, Theologie, Gesellschaft, Gesundheitssystem, Biopolitik, Menschenwürde, Bioethik, Intensivmedizin, Gesundheitsethik, Covid-19, Triage, Ethik, Strafrecht und Grundrechte, Krankenhausseelsorge, Spiritual Care, Pflegeheim, Social Distancing
- Categories
- Coronavirus
- Medizin
- Recht und Politik