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Kantianismus, Utilitarismus und die Menschenwürde
Werner Wolbert
Einleitung
Anlässlich von möglichen Triage-Problemen im Zuge der Corona-
Pandemie wie auch in anderen Kontexten werden bisweilen zwei ethische
Ansätze gegenübergestellt: eine Ethik der Würde gegen einen utilitaristi-
schen Ansatz. In anderen Kontexten, etwa in Lehrbüchern der Ethik, fin-
det man unter den normativen Theorien häufig „Kantianismus“ als Alter-
native zum „Utilitarismus“; schließlich verbindet sich die Idee der Men-
schenwürde vor allem mit dem Namen Kant. Die Idee, dass beides nicht
zusammenpasst, ist nach Richard M. Hare die „current orthodoxy“ mindes-
tens seit dem frühen 20. Jahrhundert.1 Da das Wort „Utilitarismus“ im
deutschen Sprachraum – spätestens seit Nicolai Hartmann2 – mit negati-
ven Konnotationen verbunden ist, scheint sich von der genannten Opposi-
tion her eine Ethik der Würde zu empfehlen. Das ist allerdings nicht in je-
dem Kontext so. So hat man etwa in der Diskussion um die Nutzung em-
bryonaler Stammzellen von der „Ethik der Würde“ eine „Ethik des Hei-
lens“ unterschieden und durch diese Terminologie natürlich bereits eine
klare Präferenz für die letztere Position zum Ausdruck gebracht. In dieser
Distinktion erscheint eine Ethik der Würde eher als eine Art Bremsklotz,
1 Vgl. Hare, Could Kant have been a Utilitarian?, 147–148.
2 Vgl. Hartmann, Ethik, 87: „Den Utilitarismus philosophisch zu kritisieren ist ein
leichtes Spiel. Alle seine ungereimten Folgeerscheinungen wurzeln in der banalen
Verwechslung von Gut und Nützlich. Das Nützliche ist niemals das Gute im ethi-
schen Sinne.“ Der Utilitarismus mache „die Mittel zum Zweck“ (89). Für Hart-
mann bezeichnet „nützlich“ immer nur einen Mittelwert, woraus er folgert, Utili-
taristen würden nur solche und keine Selbstwerte kennen. Man möchte zweifeln,
ob Hartmann je einen Utilitaristen gelesen hat. Und im Übrigen kann das Wort
„nützlich“ in der philosophischen Tradition durchaus einen Selbstwert meinen. So
sagt Cicero, die Stoiker hätten der These des Sokrates zugestimmt, „ut et, quicquid
honestum esse, id utile esse censerent, nec utile quicquam, quod non honestum“
(de officiis III 3, 11). Und (III 30, 110): “Est enim nihil utile, quod idem non hone-
stum, sed quia honestum, utile.” Schließlich versucht Platon in der Politeia (vor al-
lem im 1. Buch) zu zeigen, dass Gerechtigkeit nützlich sei. Und eine Schrift Augus-
tins trägt den Titel „De utilitate credendi“.
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https://doi.org/10.5771/9783748910589, am 02.10.2020, 10:33:08
Open Access - - https://www.nomos-elibrary.de/agb
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Die Corona-Pandemie
Ethische, gesellschaftliche und theologische Reflexionen einer Krise
- Title
- Die Corona-Pandemie
- Subtitle
- Ethische, gesellschaftliche und theologische Reflexionen einer Krise
- Authors
- Wolfgang Kröll
- Johann Platzer
- Hans-Walter Ruckenbauer
- Editor
- Walter Schaupp
- Publisher
- Nomos Verlagsgesellschaft
- Location
- Baden-Baden
- Date
- 2020
- Language
- German
- License
- CC BY-NC-ND 4.0
- ISBN
- 978-3-7489-1058-9
- Size
- 15.3 x 22.7 cm
- Pages
- 448
- Keywords
- Philosophie, Theologie, Gesellschaft, Gesundheitssystem, Biopolitik, Menschenwürde, Bioethik, Intensivmedizin, Gesundheitsethik, Covid-19, Triage, Ethik, Strafrecht und Grundrechte, Krankenhausseelsorge, Spiritual Care, Pflegeheim, Social Distancing
- Categories
- Coronavirus
- Medizin
- Recht und Politik