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der wissenschaftlichen Fortschritt und dessen wohltuende Effekte für die
Menschheit behindert. Terminologie ist eben häufig auch ein Stück
Sprachpolitik. Dabei geht es dem Utilitarismus (besonders bei Bentham)
doch vor allem um Minderung des Leidens (z. B. von Strafgefangenen); in-
sofern könnte auch dieser sich als eine Ethik des Heilens präsentieren. Bis-
weilen erscheint als Gegensatz zur Ethik der Würde aber auch eine Ethik
der Interessen, wobei Erstere den Spielraum der Letzteren einzuengen
scheint, während für Letztere Wahlfreiheit und die Vermehrung von Op-
tionen (maximizing choices) ein häufig unhinterfragtes oberstes Ziel zu sein
scheint. Ist nun eine Ethik der Interessen eine Spielart des Utilitarismus?
Dafür würde sprechen, dass John Stuart Mills Schrift „Über die Freiheit“
(On Liberty) gleichsam die Bibel eines solchen Liberalismus ist. Anderer-
seits hat Verfolgung von Interessen mit Autonomie, Selbstbestimmung zu
tun; und diese Stichworte verbinden sich vor allem mit dem Namen Kant.
Zahlen
Ein häufig diskutierter Aufsatz eines amerikanischen Philosophen trägt
den Titel „Should the Numbers Count?“3 Dieser Titel könnte als Kernfrage
an utilitaristische Ansätze verstanden werden, von denen man häufig an-
nimmt, dass dort nur Zahlen zählen, dass rein quantitativ gedacht wird.
Entsprechend gibt es Überlegungen, dass etwa die medizinische Versor-
gung älterer Menschen viele Ressourcen bindet, die im Kampf gegen die
Pandemie vielleicht effektiver eingesetzt werden könnten.4 Hier geht es
um Zahlen und Quantitäten, Ressourcen und Kosten, Personenzahl, Le-
bensjahre und besondere Berufe, die für Pflege und Therapie zuständig
sind und deren Qualifikation wiederum Auswirkung auf die Zahlen hat.
Das Projekt „effektiver Altruismus“ ist ein instruktives Beispiel für solche
Positionen. Peter Singer, einer ihrer Proponenten, erwähnt als Beispiel die
amerikanische Stiftung Make-a-Wish, die schwerkranken Kindern einen
Herzenswunsch erfüllt. Die in einem Fall gespendeten 7.500 $ wären nach
1.
3 Siehe Taurek, Should the Numbers count?
4 Es gab sogar den Vorschlag, Senioren sollten sich für Versuche mit Impfstoffen zur
Verfügung stellen; im Falle einer schweren Schädigung könnten sie ja um Sterbe-
hilfe bitten. Solche Argumente können auch kommunitaristischer Art sein: Im
Sinne des Überlebens einer Gemeinschaft haben sich die Älteren für die Jüngeren
zu opfern bzw. für solche, die für das Überleben der Gemeinschaft wichtig sind.
Derartige Überlegungen gab es z. B. im Judentum als einer Kommunität, deren
Überleben gefährdet war.
Werner Wolbert
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https://doi.org/10.5771/9783748910589, am 02.10.2020, 10:33:08
Open Access - - https://www.nomos-elibrary.de/agb
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Die Corona-Pandemie
Ethische, gesellschaftliche und theologische Reflexionen einer Krise
- Title
- Die Corona-Pandemie
- Subtitle
- Ethische, gesellschaftliche und theologische Reflexionen einer Krise
- Authors
- Wolfgang Kröll
- Johann Platzer
- Hans-Walter Ruckenbauer
- Editor
- Walter Schaupp
- Publisher
- Nomos Verlagsgesellschaft
- Location
- Baden-Baden
- Date
- 2020
- Language
- German
- License
- CC BY-NC-ND 4.0
- ISBN
- 978-3-7489-1058-9
- Size
- 15.3 x 22.7 cm
- Pages
- 448
- Keywords
- Philosophie, Theologie, Gesellschaft, Gesundheitssystem, Biopolitik, Menschenwürde, Bioethik, Intensivmedizin, Gesundheitsethik, Covid-19, Triage, Ethik, Strafrecht und Grundrechte, Krankenhausseelsorge, Spiritual Care, Pflegeheim, Social Distancing
- Categories
- Coronavirus
- Medizin
- Recht und Politik