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großem unverschuldeten Unglück bewahrt, und wenn dieses Ver-
schweigen nur durch Ableugnen erfolgen kann.23
Mill vertritt somit einen indirekten Utilitarismus mit der Unterscheidung
einer kritischen von einer praktischen Ebene, wie ihn ausführlicher Ri-
chard M. Hare in seinem Zwei-Ebenen-Ansatz (two level approach) erarbei-
tet hat.24 Solch ein Ansatz rechnet ausdrücklich damit, dass der direkte Be-
zug auf den Nutzen, das Wohl und Wehe aller Betroffenen, zur Bestim-
mung der richtigen Handlung diesen Nutzen vereiteln kann, ähnlich wie
das ausdrückliche Anstreben von Glück oder Lust dieses Ziel gerade ver-
fehlen kann. Das wird noch deutlicher anhand der schon in obigen Zita-
ten angedeuteten terminologischen Unterscheidung bei Mill, die im Deut-
schen schwer wiederzugeben ist. Mill unterscheidet nämlich zwischen uti-
lity und expediency. Das Utility-Prinzip ist zunächst kein normatives, son-
dern ein axiologisches Prinzip, gemäß dem Glück und Wohlergehen die
einzigen intrinsischen Werte sind.25 Es ist nicht ein Prinzip, mit dem man
direkt die Richtigkeit der Handlung bestimmt; der direkte Bezug auf kurz-
fristige Folgen und Ziele heißt expediency. Am Schluss seiner Logik for-
muliert Mill:
I do not mean to assert that the promotion of happiness should itself
be the end of all action, or even of all rules of action. It is the justifica-
tion, and ought to be the controller, of all ends, but is not itself a sole
end.”26 Mit John Gray lässt sich festhalten, „that Mill may consistently
allow an important place for moral rules and social norms, which gen-
erate obligations and which bar direct appeal to utility, without aban-
doning his utilitarian commitment.27
Das gilt natürlich auch für Rechte als Hindernisse (bars) oder Trümpfe.
23 Mill, Utilitarianism, 69. Im Fall der Schwerkranken denken wir heute etwas an-
ders. Hier würde nur eine Theorie absolut gültiger deontologischer Normen wi-
dersprechen, wie man sie bei Kant und in der katholischen moraltheologischen
Tradition findet. Letztere hatte in diesem Punkt allerdings genügend Wege einer
restriktiven Interpretation des Verbots.
24 Vgl. Hare, Moral Thinking.
25 Die hedonistische Deutung des Glücks durch Mill wäre freilich zu kritisieren;
aber das kann hier unberücksichtigt bleiben.
26 Mill, Logic, 621.
27 Gray, Mill on Liberty, 39.
Werner Wolbert
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https://doi.org/10.5771/9783748910589, am 02.10.2020, 10:33:08
Open Access - - https://www.nomos-elibrary.de/agb
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Die Corona-Pandemie
Ethische, gesellschaftliche und theologische Reflexionen einer Krise
- Title
- Die Corona-Pandemie
- Subtitle
- Ethische, gesellschaftliche und theologische Reflexionen einer Krise
- Authors
- Wolfgang Kröll
- Johann Platzer
- Hans-Walter Ruckenbauer
- Editor
- Walter Schaupp
- Publisher
- Nomos Verlagsgesellschaft
- Location
- Baden-Baden
- Date
- 2020
- Language
- German
- License
- CC BY-NC-ND 4.0
- ISBN
- 978-3-7489-1058-9
- Size
- 15.3 x 22.7 cm
- Pages
- 448
- Keywords
- Philosophie, Theologie, Gesellschaft, Gesundheitssystem, Biopolitik, Menschenwürde, Bioethik, Intensivmedizin, Gesundheitsethik, Covid-19, Triage, Ethik, Strafrecht und Grundrechte, Krankenhausseelsorge, Spiritual Care, Pflegeheim, Social Distancing
- Categories
- Coronavirus
- Medizin
- Recht und Politik