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Konflikte
Ein Kernproblem deontologischer Theorien ist der Konflikt von Rechten,
TrĂĽmpfen oder als absolut eingestufte Pflichten. Nach welchen Kriterien
soll im Fall der Kollision solcher Rechte oder Pflichten entschieden wer-
den, wenn das teleologische Kriterium des Wohls und Wehes aller Betrof-
fenen auszuschlieĂźen ist? DafĂĽr gibt es von deontologischen Ethikern
meist keine präzise Antwort; man überlässt sich dabei eher einem nicht nä-
her reflektierten common sense oder einer subjektiven Intuition. Deontolo-
gisch verstandene Rechte oder Pflichten gelten fĂĽr die entsprechenden Au-
toren meist nur prima facie (auf den ersten Blick).28 Von daher versteht
sich auch die Beobachtung, dass Utilitaristen und ihre Gegner in konkre-
ten Fragen oft zu denselben Ergebnissen kommen, wenn auch die GrĂĽnde
dafür unterschiedlich sein mögen. So hält etwa Michael Walzer in Fällen
von „supreme emergency“ die gezielte Tötung von Zivilisten im Krieg für
möglich: „Given the view of Nazism that I am assuming, the issue takes
this form: should I wager this determinate crime (the killing of innocent
people) against that immeasurable evil (a Nazi triumph)?”29 Das Flächen-
bombardement deutscher Städte habe immerhin Ressourcen auf deutscher
Seite gebunden, was zu Beginn des Krieges vielleicht die ultima ratio war,
später allerdings nicht.30 Generell aber gelte: „The deliberate slaughter of
innocent men and women cannot be justified simply because it saves the
lives of other men and women.”31. Das muss ein Utilitarist nicht bestreit-
en, wie wiederum Walzer selbst bemerkt: “I have said that such acts can
probably ruled out on utilitarian grounds, but it is also true that utilitari-
anism as it is commonly understood, indeed, as Sidgwick himself under-
stood it, encourages the bizarre accounting that makes them (morally) pos-
sible.”32
Gleichwohl könnte die jeweilige Tradition auch verschiedene Tenden-
zen oder Präsumtionen favorisieren. Wer sich einem kantischen Ansatz
verpflichtet weiß, wird vielleicht zunächst Triage-Überlegungen entschie-
den von sich weisen. Andererseits sind, falls eine entsprechende Situation
4.
28 Vgl. Mackie, Right-based Moral Theory, 177 und Ross, The Right and the Good.
29 Walzer, Just and Unjust Wars, 259.
30 Vgl. Ebd., 258–263.
31 Ebd. 262. Vgl. ebd.: “There is much else that we might plausibly want to preserve:
the quality of our lives, for example, our civilization and morality, our collective
abhorrence of murder, even when it seems, as it always does, to serve some pur-
pose.”
32 Ebd. Ob diese Einschätzung Sidgwicks zutrifft, sei dahingestellt.
Kantianismus, Utilitarismus und die MenschenwĂĽrde
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https://doi.org/10.5771/9783748910589, am 02.10.2020, 10:33:08
Open Access - - https://www.nomos-elibrary.de/agb
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Die Corona-Pandemie
Ethische, gesellschaftliche und theologische Reflexionen einer Krise
- Title
- Die Corona-Pandemie
- Subtitle
- Ethische, gesellschaftliche und theologische Reflexionen einer Krise
- Authors
- Wolfgang Kröll
- Johann Platzer
- Hans-Walter Ruckenbauer
- Editor
- Walter Schaupp
- Publisher
- Nomos Verlagsgesellschaft
- Location
- Baden-Baden
- Date
- 2020
- Language
- German
- License
- CC BY-NC-ND 4.0
- ISBN
- 978-3-7489-1058-9
- Size
- 15.3 x 22.7 cm
- Pages
- 448
- Keywords
- Philosophie, Theologie, Gesellschaft, Gesundheitssystem, Biopolitik, MenschenwĂĽrde, Bioethik, Intensivmedizin, Gesundheitsethik, Covid-19, Triage, Ethik, Strafrecht und Grundrechte, Krankenhausseelsorge, Spiritual Care, Pflegeheim, Social Distancing
- Categories
- Coronavirus
- Medizin
- Recht und Politik