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von einer deontologischen Begründung in Einzelfragen des sittlich richti-
gen Handelns.52 Diese Verwechslung findet sich bereits bei Kant selbst, et-
wa in der Behandlung der Falschaussage oder in seiner Straftheorie. Außer-
dem wird bisweilen die Idee einer unbedingten Pflicht mit einer aus-
nahmslos gültigen Pflicht gleichgesetzt. So auch wiederum bei Kant, weil
er fälschlicherweise voraussetzt, Ausnahmen erfolgten immer „zum Vor-
theil unserer Neigung“53; eine Ausnahme kann aber wegen einer vordring-
lichen Pflicht erforderlich sein. Und diese Ausnahme bedeutet keine Be-
einträchtigung der Unbedingtheit und Allgemeingültigkeit der Pflicht,
sondern deren Präzisierung in einem konkreten Fall (wie etwa in dem
Lehrbuchbeispiel einer Person, die einem Gestapooffizier, der nach ver-
steckten Juden fragt, nicht die Wahrheit sagt).54
Conclusio
Aus den vorgelegten Überlegungen ergeben sich u. a. folgende Konsequen-
zen:
1. Wer über Utilitarismus spricht bzw. diesen kritisiert, sollte erklären,
wie er diesen Terminus versteht bzw. auf welche Version des Utilitaris-
mus er sich bezieht und dabei von den negativen Konnotationen ab-
strahieren.
52 Vgl. Witschen, Kant als Erzdeontologe, 234.
53 Kant, Grundlegung, IV 424: bei einer Übertretung, so Kant, „nehmen wir uns die
Freiheit, für uns oder (auch nur für diesesmal) zum Vortheil unserer Neigung da-
von [vom allgemeinen Gesetz, Anmerkung] eine Ausnahme zu machen“. Vgl.
dazu Rashdall, I 115: „He does not see that the rule ,Do this except in such and
such circumstances‘ is just as ,categorical‘ and just as little ,hypothetical‘ as the
rule ,Do this under all circumstances whatsoever,‘ so long as the exceptions are
recognized as no less universal in their application, no less based upon the reason
and nature of things, than the original rule. Kant in fact confuses the inclusion of
an exception in a moral rule with the admission of an exception to a moral rule.”
54 Dagegen Kant, Über eine vermeintes Recht (VIII 426): „Wahrhaftigkeit in Aussa-
gen, die man nicht umgehen kann, ist formale Pflicht des Menschen gegen Jeden,
es mag ihm oder einem Anderen daraus noch so ein großer Nachtheil erwach-
sen“. Das ist ein klar deontologisches Verbot. Solche Deontologie ist wohl eher
ein traditionelles Relikt; sie muss nicht als für die kantische Ethik konstitutiv gel-
ten. Vgl. hier bes. Cummiskey, Kantian Consequentialism sowie Thilly, Kant and
Teleological Ethics. Kantianismus, Utilitarismus und die Menschenwürde
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https://doi.org/10.5771/9783748910589, am 02.10.2020, 10:33:08
Open Access - - https://www.nomos-elibrary.de/agb
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Die Corona-Pandemie
Ethische, gesellschaftliche und theologische Reflexionen einer Krise
- Title
- Die Corona-Pandemie
- Subtitle
- Ethische, gesellschaftliche und theologische Reflexionen einer Krise
- Authors
- Wolfgang Kröll
- Johann Platzer
- Hans-Walter Ruckenbauer
- Editor
- Walter Schaupp
- Publisher
- Nomos Verlagsgesellschaft
- Location
- Baden-Baden
- Date
- 2020
- Language
- German
- License
- CC BY-NC-ND 4.0
- ISBN
- 978-3-7489-1058-9
- Size
- 15.3 x 22.7 cm
- Pages
- 448
- Keywords
- Philosophie, Theologie, Gesellschaft, Gesundheitssystem, Biopolitik, Menschenwürde, Bioethik, Intensivmedizin, Gesundheitsethik, Covid-19, Triage, Ethik, Strafrecht und Grundrechte, Krankenhausseelsorge, Spiritual Care, Pflegeheim, Social Distancing
- Categories
- Coronavirus
- Medizin
- Recht und Politik