Page - 154 - in Das Schloss
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immer wenn sie so müde war. Ich kniete neben ihr nieder und las so den
Brief. Kaum war ich fertig, nahm ihn Amalia, nach einem kurzen Blick auf
mich, wieder auf, brachte es aber nicht mehr über sich, ihn zu lesen, zerriß
ihn, warf die Fetzen dem Mann draußen ins Gesicht und schloß das Fenster.
Das war jener entscheidende Morgen. Ich nenne ihn entscheidend, aber jeder
Augenblick des vorhergehenden Nachmittags ist ebenso entscheidend
gewesen.« – »Und was stand in dem Brief?« fragte K. »Ja, das habe ich noch
nicht erzählt«, sagte Olga. »Der Brief war von Sortini, adressiert war er an
das Mädchen mit dem Granatenhalsband. Den Inhalt kann ich nicht
wiedergeben. Es war eine Aufforderung, zu ihm in den Herrenhof zu
kommen, und zwar sollte Amalia sofort kommen, denn in einer halben Stunde
mußte Sortini wegfahren. Der Brief war in den gemeinsten Ausdrücken
gehalten, die ich noch nie gehört hatte und nur aus dem Zusammenhang halb
erriet. Wer Amalia nicht kannte und nur diesen Brief gelesen hatte, mußte das
Mädchen, an das jemand so zu schreiben gewagt hatte, für entehrt halten,
auch wenn es gar nicht berührt worden sein sollte. Und es war kein
Liebesbrief, kein Schmeichelwort war darin, Sortini war vielmehr offenbar
böse, daß der Anblick Amalias ihn ergriffen, ihn von seinen Geschäften
abgehalten hatte. Wir legten es uns später so zurecht, daß Sortini
wahrscheinlich gleich abends hatte ins Schloß fahren wollen, nur Amalias
wegen im Dorf geblieben war und am Morgen, voll Zorn darüber, daß es ihm
auch in der Nacht nicht gelungen war, Amalia zu vergessen, den Brief
geschrieben hatte. Man mußte dem Brief gegenüber zuerst empört sein, auch
die Kaltblütigste, dann aber hätte bei einer anderen als Amalia wahrscheinlich
vor dem bösen, drohenden Ton die Angst überwogen, bei Amalia blieb es bei
der Empörung, Angst kennt sie nicht, nicht für sich, nicht für andere. Und
während ich mich dann wieder ins Bett verkroch und mir den abgebrochenen
Schlußsatz wiederholte: ›Daß du also gleich kommst, oder -!‹ blieb Amalia
auf der Fensterbank und sah hinaus, als erwarte sie noch weitere Boten und
sei bereit, jeden so zu behandeln wie den ersten.« – »Das sind also die
Beamten«, sagte K. zögernd, »solche Exemplare findet man unter ihnen. Was
hat dein Vater gemacht? Ich hoffe, er hat sich kräftig an zuständiger Stelle
über Sortini beschwert, wenn er nicht den kürzeren und sicheren Weg in den
Herrenhof vorgezogen hat. Das allerhäßlichste an der Geschichte ist ja nicht
die Beleidigung Amalias, die konnte leicht gutgemacht werden, ich weiß
nicht, warum du so übermäßig großes Gewicht gerade darauf legst; warum
sollte Sortini mit einem solchen Brief Amalia für immer bloßgestellt haben,
nach deiner Erzählung könnte man das glauben, gerade das ist aber doch nicht
möglich, eine Genugtuung war Amalia leicht zu verschaffen, und in ein paar
Tagen war der Vorfall vergessen; Sortini hat nicht Amalia bloßgestellt,
sondern sich selbst. Vor Sortini also schrecke ich zurück, vor der Möglichkeit,
daß es einen solchen Mißbrauch der Macht gibt. Was in diesem Fall mißlang,
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Das Schloss
- Title
- Das Schloss
- Author
- Franz Kafka
- Date
- 1926
- Language
- German
- License
- PD
- Size
- 21.0 x 29.7 cm
- Pages
- 246
- Keywords
- Roman, Literatur, Schriftsteller
- Categories
- Weiteres Belletristik