Page - 205 - in Das Schloss
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eine große Abneigung gegen alle Dinge, die ihn betrafen, er rückte mit dem
Kopf ein wenig beiseite, als mache er dadurch den Fragen Bürgels den Weg
frei und könne von ihnen nicht mehr berührt werden. »Es ist«, fuhr Bürgel
fort, streckte die Arme und gähnte, was in einem verwirrenden Widerspruch
zum Ernst seiner Worte war, »es ist eine ständige Klage der Sekretäre, daß sie
gezwungen sind, die meisten Dorfverhöre in der Nacht durchzuführen.
Warum aber klagen sie darüber? Weil es sie zu sehr anstrengt? Weil sie die
Nacht lieber zum Schlafen verwenden wollen? Nein, darüber klagen sie
gewiß nicht. Es gibt natürlich unter den Sekretären Fleißige und minder
Fleißige, wie überall; aber über allzu große Anstrengung klagt niemand von
ihnen gar öffentlich nicht. Es ist das einfach nicht unsere Art. Wir kennen in
dieser Hinsicht keinen Unterschied zwischen gewöhnlicher Zeit und
Arbeitszeit. Solche Unterscheidungen sind uns fremd. Was also haben aber
dann die Sekretäre gegen die Nachtverhöre? Ist es etwa gar Rücksicht auf die
Parteien? Nein, nein, das ist es auch nicht. Gegen die Parteien sind die
Sekretäre rücksichtslos, allerdings nicht um das geringste rücksichtsloser als
gegen sich selbst, sondern nur genauso rücksichtslos. Eigentlich ist ja diese
Rücksichtslosigkeit nichts als eiserne Befolgung und Durchführung des
Dienstes, die größte Rücksichtnahme, welche sich die Parteien nur wünschen
können. Dies wird auch im Grunde – ein oberflächlicher Beobachter merkt
das freilich nicht – völlig anerkannt; ja, es sind zum Beispiel in diesem Falle
gerade die Nachtverhöre, welche den Parteien willkommen sind, es laufen
keine grundsätzlichen Beschwerden gegen die Nachtverhöre ein. Warum also
doch die Abneigung der Sekretäre?« Auch das wußte K. nicht, er wußte so
wenig, er unterschied nicht einmal, ob Bürgel ernstlich oder nur scheinbar die
Antwort forderte. Wenn du mich in dein Bett legen läßt, dachte er, werde ich
dir morgen mittag oder noch lieber abends alle Fragen beantworten. Aber
Bürgel schien auf ihn nicht zu achten, allzusehr beschäftigte ihn die Frage, die
er sich selbst vorgelegt hatte: »Soviel ich erkenne und soviel ich selbst
erfahren habe, haben die Sekretäre hinsichtlich der Nachtverhöre etwa
folgendes Bedenken: Die Nacht ist deshalb für Verhandlungen mit den
Parteien weniger geeignet, weil es nachts schwer oder geradezu unmöglich
ist, den amtlichen Charakter der Verhandlungen voll zu wahren. Das liegt
nicht an Äußerlichkeiten, die Formen können natürlich in der Nacht nach
Belieben ebenso streng beobachtet werden wie bei Tag. Das ist es also nicht,
dagegen leidet die amtliche Beurteilung in der Nacht. Man ist unwillkürlich
geneigt, in der Nacht die Dinge von einem mehr privaten Gesichtspunkt zu
beurteilen, die Vorbringungen der Parteien bekommen mehr Gewicht, als
ihnen zukommt, es mischen sich in die Beurteilung gar nicht hingehörige
Erwägungen der sonstigen Lage der Parteien, ihrer Leiden und Sorgen, ein;
die notwendige Schranke zwischen Parteien und Beamten, mag sie äußerlich
fehlerlos vorhanden sein, lockert sich, und wo sonst, wie es sein soll, nur
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Das Schloss
- Title
- Das Schloss
- Author
- Franz Kafka
- Date
- 1926
- Language
- German
- License
- PD
- Size
- 21.0 x 29.7 cm
- Pages
- 246
- Keywords
- Roman, Literatur, Schriftsteller
- Categories
- Weiteres Belletristik