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um durch das unübertreffliche Sieb durchzugleiten? Sie glauben, es kann gar
nicht vorkommen? Sie haben recht, es kann gar nicht vorkommen. Aber eines
Nachts – wer kann für alles bürgen? – kommt es doch vor. Ich kenne unter
meinen Bekannten allerdings niemanden, dem es schon geschehen wäre, nun
beweist das zwar sehr wenig, meine Bekanntschaft ist im Vergleich zu den
hier in Betracht kommenden Zahlen beschränkt, und außerdem ist es auch gar
nicht sicher, daß ein Sekretär, dem etwas Derartiges geschehen ist, es auch
gestehen will, es ist immerhin eine sehr persönliche und gewissermaßen die
amtliche Scham ernst berührende Angelegenheit. Immerhin beweist aber
meine Erfahrung vielleicht, daß es sich um eine so seltene, eigentlich nur dem
Gerücht nach vorhandene, durch gar nichts anderes bestätigte Sache handelt,
daß es also sehr übertrieben ist, sich vor ihr zu fürchten. Selbst wenn sie
wirklich geschehen sollte, kann man sie – sollte man glauben – förmlich
dadurch unschädlich machen, daß man ihr, was sehr leicht ist, beweist, für sie
sei kein Platz auf dieser Welt. Jedenfalls ist es krankhaft, wenn man sich aus
Angst vor ihr unter der Decke versteckt und nicht wagt hinauszuschauen. Und
selbst wenn die vollkommene Unwahrscheinlichkeit plötzlich hätte Gestalt
bekommen sollen, ist dann schon alles verloren? Im Gegenteil. Daß alles
verloren sei, ist noch unwahrscheinlicher als das Unwahrscheinlichste.
Freilich, wenn die Partei im Zimmer ist, ist es schon sehr schlimm. Es beengt
das Herz. – Wie lange wirst du Widerstand leisten können? fragte man sich.
Es wird aber gar kein Widerstand sein, das weiß man. Sie müssen sich die
Lage nur richtig vorstellen. Die niemals gesehene, immer erwartete, mit
wahrem Durst erwartete und immer vernünftigerweise als unerreichbar
angesehene Partei sitzt da. Schon durch ihre stumme Anwesenheit lädt sie ein,
in ihr armes Leben einzudringen, sich darin umzutun wie in eigenem Besitz
und dort unter ihren vergeblichen Forderungen mitzuleiden. Diese Einladung
in der stillen Nacht ist berückend. Man folgt ihr und hat nun eigentlich
aufgehört, Amtsperson zu sein. Es ist eine Lage, in der es schon bald
unmöglich wird, eine Bitte abzuschlagen. Genaugenommen ist man
verzweifelt; noch genauer genommen, ist man sehr glücklich. Verzweifelt,
denn die Wehrlosigkeit, mit der man hier sitzt und auf die Bitte der Partei
wartet und weiß, daß man sie, wenn sie einmal ausgesprochen ist, erfüllen
muß, wenn sie auch, wenigstens soweit man es selbst übersehen kann, die
Amtsorganisation förmlich zerreißt: das ist ja wohl das Ärgste, was einem in
der Praxis begegnen kann. Vor allem – von allem anderen abgesehen -, weil
es auch eine über alle Begriffe gehende Rangerhöhung ist, die man hier für
den Augenblick für sich gewaltsam in Anspruch nimmt. Unserer Stellung
nach sind wir ja gar nicht befugt, Bitten, wie die, um die es sich hier handelt,
zu erfüllen, aber durch die Nähe dieser nächtlichen Partei wachsen uns
gewissermaßen auch die Amtskräfte, wir verpflichten uns zu Dingen, die
außerhalb unseres Bereiches sind; ja, wir werden sie auch ausführen. Die
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Das Schloss
- Title
- Das Schloss
- Author
- Franz Kafka
- Date
- 1926
- Language
- German
- License
- PD
- Size
- 21.0 x 29.7 cm
- Pages
- 246
- Keywords
- Roman, Literatur, Schriftsteller
- Categories
- Weiteres Belletristik