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EINLEITUNG
Das Verschwinden des bairisch-österreichischen Dialekts wird seit dem 18. Jahrhun-
dert mit unschöner Regelmäßigkeit und Eindringlichkeit beschworen.1 Noch vor weni-
gen Jahren hatte man ihm auf längere Sicht kaum eine Überlebenschance eingeräumt.
Doch informelle, mündlichkeitsorientierte Kommunikationsweisen wie Mailen, Blog-
gen, Chatten oder Simsen bescherten regionalen Varietäten auch in verschriftlichter
Form ein überraschendes Comeback, das sie wieder in den Fokus verschiedenster For-
schungsdisziplinen rückte. Dialektliteratur dagegen bekommt nach wie vor nur selten
wissenschaftliche Aufmerksamkeit. Denn der übliche Verdacht ist zunächst, dass man
es bei Mundarttexten mit verschriftlichten Formen einer vor allem mündlichen Trivi-
alkultur zu tun hat, vorzugsweise aus dem Feld der seichten Unterhaltungskomik, der
sentimentalen Liebeslyrik oder des folkloristischen, rückwärtsgewandten Heile-Welt-
Kitsches. Daran konnten auch die populären Mundartadaptionen der Konkreten Poe-
sie, des kritischen Volkstheaters, der Kabarettszene oder der Neuen Volksmusik nicht
viel ändern. Zu sehr assoziiert man Dialektkunst noch mit Ausprägungen, die seit dem
19. Jahrhundert forciert wurden: mit belangloser Almenromantik, mit süßlichen Ge-
sangsvereinsliedernoderbanalenLaientheaterschwänken.
Der bewusste Dialektgebrauch als ästhetisches Phänomen ist jedoch weitaus vielge-
staltiger und weist seit seinen Anfängen eine beeindruckende funktionale Spannbreite
auf.EinenerstenHöhepunkterreichteDichtunginundmitMundartbereits im18.Jahr-
hundert, als sie sich unter spezi schen sozialen und soziolinguistischen Rahmenbe-
dingungen als künstlerische Ausdrucksform im bairisch-österreichischen Sprachraum
etablieren konnte. Eine gerechte Beurteilung dieser Leistungen blieb ihr allerdings bis-
lang verwehrt. Einzelaspekte wie das sprachliche Material, die literatursoziologische
Einbettungoderdieproduktions-undrezeptionsästhetischenBedingungenwurdenund
werden zwar zuweilen behandelt, doch mangelte es an einer übergreifenden Untersu-
chung des künstlerischen Dialektgebrauchs vor 1800. Gerade aber in dieser Frühzeit
der Mundartkunst, in der sie noch nicht von der Volkssprache-Ideologie und ihren
thematischen und formalen Normierungen geprägt war, konnte sie im bairisch-öster-
reichischen Sprachraum erstmals eine vollwertige Eigenständigkeit entfalten: innerhalb
der(hochsprachlichen,aberauchlateinischen, italienischenundfranzösischen) Eliten-
kultur` ebenso wie als Trägerin einer Gegenkultur, in der das Inof zielle, das Private,
nichtDruckbareseinRechtbekam.
Tatsächlich war Dialektkunst im 17. und 18. Jahrhundert mehr als rustikale Tri-
vialunterhaltung: Sie wurde gezielt in den politischen Diskurs eingebunden oder in
1 Stark gekürzte, überarbeitete und ergänzte Version der Ausführungen in Christian Neuhuber: Die verges-
sene Kunst. Prolegomena zu einer Ästhetik der österreichischen Dialektliteratur vor 1800. In: Franz M.
Eybl(Hg.):Nebenschauplätze.RänderundÜbergängeinGeschichteundKulturdesAufklärungsjahrhun-
derts.Bochum:Winkler2014. (Dasachtzehnte JahrhundertundÖsterreich28)S.53 85.
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Bairisch-österreichische Dialektliteratur vor 1800
Eine andere Literaturgeschichte
- Title
- Bairisch-österreichische Dialektliteratur vor 1800
- Subtitle
- Eine andere Literaturgeschichte
- Authors
- Christian Neuhuber
- Stefanie Edler
- Elisabeth Zehetner
- Publisher
- Böhlau Verlag
- Location
- Wien
- Date
- 2019
- Language
- German
- License
- CC BY 4.0
- ISBN
- 978-3-205-20630-9
- Size
- 17.0 x 24.0 cm
- Pages
- 652
- Keywords
- Germanistik, Dialektliteratur, Bairisch, Sprachwissenschaft, österreichische Dialektkunst
- Categories
- Geschichte Historische Aufzeichnungen