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1 GLAUBE UND ABERGLAUBE
DiestarkereligiöseÜberformungdesgesellschaftlichenLebensnichtnur imländlichen
Bereich macht Glaubensdinge zu einem der wichtigsten Themen für die Dialektkunst
vor 1800. Als bewusstes Ausdrucksmittel steht die dialektale Formulierung jedoch nur
in wenigen Bereichen tatsächlich im Dienste religiösen Handelns, noch seltener im li-
turgischen Kontext. Als Theolekt, also als geeignete Sprache, um über das Göttliche zu
kommunizieren, diente der römisch-katholischen Kirche zu dieser Zeit (und letztend-
lich bis zum Zweiten Vatikanischen Konzil) vorrangig das Lateinische, das Ritus und
Kultus bestimmte.1 Volkssprache konnte im liturgischen Gebrauch in der Homilie und
in gesungenen Texten verwendet werden, allenfalls noch im Allgemeinen Gebet und in
denMonitionen.AufgrunddesöffentlichenCharaktersundderübergreifendenRituali-
sierung dieser theolinguistischen Kommunikation bediente man sich dabei freilich fast
ausschließlich der Leitvarietät (oberdeutscher, später dann mitteldeutscher Standard).
Lokal gebundene und damit kommunikativ begrenzte Varietäten waren in der Litur-
gie nicht vorgesehen; wo Dialekt dennoch als rhetorisch-ästhetisches Mittel eingesetzt
wurde, etwa bei der Predigt oder im Offertoriumsgesang, gab dies vielfach Anlass zu
heftigen Diskussionen und wiederholten Verboten.2 Auch im paraliturgischen Bereich,
ja selbst im religiösen Brauchtum und individuellen Gebet wirkte diese Orientierung
am überregionalen Standard nach. Nur einige wenige Hochfeste des Kirchenjahrs und
Andachtsterminefürlandschaftsspezi scheHeiligebotenAnknüpfungspunktefürAus-
nahmen.EngandieverschiedenenTraditionendesVolksbrauchsgebunden,übernahm
mundartliche Poesie hier wesentliche Aufgaben in der Ausgestaltung von Frömmig-
keitsformen. Den weitaus größten Teil bilden dabei die Lieder und Spiele zum Weih-
nachtsfestkreis, die als Beispiele gelebten Volksglaubens in vielfältigen Ausformungen
überliefert und zum Teil bis heute im Volksbrauch lebendig sind. Daneben aber diente
das christliche Sujet im mundartlichen Gewande zumeist ganz anderen Zwecken denn
der individuellenodergemeinschaftlichenAndacht:derentlastendenKomisierung,hu-
morvollenTravestieoderaf rmativenKritik,aberauchdersatirischenVerunglimpfung,
aufrüttelnden Zeitklage oder dem systemunterminierenden Angriff auf die katholische
Kirche.
1 Vgl.dazudiegrundlegendenAusführungenvonAlbrechtGreule:DialektalsTheolekt?Überlegungenaus
der Perspektive der Variationslinguistik. In: Elisabeth Frieben/Ulrich Kanz/Barbara Neuber/Ludwig Ze-
hetner (Hg.): Dialekt und Religion. Beiträge zum 5. dialektologischen Symposium im Bayerischen Wald,
Walderbach, Juni2012.Regensburg:editionvulpes2014,S.29 36.
2 Vgl.dazuauchKapitel8 (Predigtkritiken).
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Bairisch-österreichische Dialektliteratur vor 1800
Eine andere Literaturgeschichte
- Title
- Bairisch-österreichische Dialektliteratur vor 1800
- Subtitle
- Eine andere Literaturgeschichte
- Authors
- Christian Neuhuber
- Stefanie Edler
- Elisabeth Zehetner
- Publisher
- Böhlau Verlag
- Location
- Wien
- Date
- 2019
- Language
- German
- License
- CC BY 4.0
- ISBN
- 978-3-205-20630-9
- Size
- 17.0 x 24.0 cm
- Pages
- 652
- Keywords
- Germanistik, Dialektliteratur, Bairisch, Sprachwissenschaft, österreichische Dialektkunst
- Categories
- Geschichte Historische Aufzeichnungen