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66 GLAUBE UND ABERGLAUBE
Andachtstexte
So häu g sich Mundartliches im Fest- und Feierkontext des christlichen Brauchtums
ndet, so selten begegnet es uns abseits dieser Ausnahmezeiten` im rituellen Alltag.
Das mag wie so oft der Tatsache geschuldet sein, dass das Besondere leichter den
Weg in die Schrift ndet, als Erinnerung oder Dedikation, als Arbeitshilfe in der Auf-
führungssituation oder zur Sicherung des Weiterbestands, als Verständniserleichterung
oderauchabschreckendesBeispiel.GenerellaberscheintderDialektgebrauchingewis-
ser Weise nicht der Würde des Gegenstands angemessen zu sein, wenn die sakralen die
säkularen Komponenten überwiegen, die unterhaltende hinter die spirituelle Funktion
zurücktritt.AlswesentlichanTextenorientierteBuchreligionhatdasschriftlichFixierte
im Christentum Offenbarungscharakter; in ihm konkretisiert sich das göttliche Han-
deln. Die mündlichkeitsbedingte Abweichung von der Schrift kann dementsprechend
als Unterwanderung und Verfälschung des kollektiv Verbindlichen verstanden werden,
das sich eben nicht regional, sondern entgrenzend versteht. Ritualisierte Andachtsfor-
men wie das Gebet oder das gemeinsame Singen basieren trotz ihrer persönlichen und
kommunikativenKomponenteaufderVerbindlichkeitderReproduktiondurchFormel-
haftigkeit und entziehen sich somit der Spontaneität und Variabilität des Mündlichen.
Das bedeutet freilich nicht, dass im persönlichen Austausch mit dem Numinosen nicht
auch regional markierte Nähesprachlichkeit zum Tragen kommen kann ganz im Ge-
genteil. Verschriftlicht ndet man diese intimen` Dokumente der Glaubenspraxis aller-
dings nur höchst selten; und auch da ist zumeist davon auszugehen, dass es sich nicht
um konzeptionelle Dialektalität handelt, sondern um eine allmähliche Anpassung der
Sprechgewohnheiten aufgrund einer mündlichkeitsnahen morphologischen, syntakti-
schenundsemantischenStrukturderAusgangstexte.
EinBeispiel fürdieseansichtransitorischeoraleLiteratur istdenWienerPredigtkri-
tikern Leopold Alois Hoffmann und Cajetan Tschink zu verdanken,89 die 1787 in den
Kritischen Bemerkungen über den religiösen Zustand der k. k. Staaten ein Morgengebet
mit dialektalen Formen als abschreckend gedachtes Beispiel einer untragbaren Volks-
frömmigkeitpräsentierten:
Heutaufsteh i,
GegenGottgeh i,
GegenGott tritt i,
Meinen liebenhimmlischenVaterbitt i,
Daßermirverleih'
DerhöchstenEngeldrei,
Dererste,dermiweißt, Derandre,dermispeißt,
Derdritte,dermibehütundbewahrt,
DaßmirkeinLeidwiderfahrt.
DashelfmirGottderVater,
UndderSohn,
UndderheiligeGeist.Amen.90
Der Text, der so monieren die entrüsteten Aufklärer noch häu g gebethet wird
,
war ursprünglich wohl nicht mundartlich verfasst, sollte aber in dieser Form die Un-
89 ZumzeitgenössischenDiskurszuklerikalerPraxisundGlaubensvermittlungsieheauchKapitel8.
90 Kritische Bemerkungen über den religiösen Zustand der k. k. Staaten. Herausgegeben von einer Gesell-
schaft. Zweyter Band. Wien 1787. Gedruckt auf Kosten der Gesellschaft. In Kommission bei Sebastian
Hartl, S.391f.
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Bairisch-österreichische Dialektliteratur vor 1800
Eine andere Literaturgeschichte
- Title
- Bairisch-österreichische Dialektliteratur vor 1800
- Subtitle
- Eine andere Literaturgeschichte
- Authors
- Christian Neuhuber
- Stefanie Edler
- Elisabeth Zehetner
- Publisher
- Böhlau Verlag
- Location
- Wien
- Date
- 2019
- Language
- German
- License
- CC BY 4.0
- ISBN
- 978-3-205-20630-9
- Size
- 17.0 x 24.0 cm
- Pages
- 652
- Keywords
- Germanistik, Dialektliteratur, Bairisch, Sprachwissenschaft, österreichische Dialektkunst
- Categories
- Geschichte Historische Aufzeichnungen