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476 KÖRPER UND SINNLICHKEIT
ten.WiesehrdieseArtderLiteraturtatsächlichimAlltagverankertwar, lässtsichkaum
mehrsagen;nureinBruchteilkamverschriftlichtaufuns.
DerunzivilisierteKörper
SchondieÜberlieferungsgeschichtemancherdieserkarnevaleskenTexteverrätuns,wie
sehr sie wider die Schicklichkeit verstießen. Ein Beispiel dafür ist etwa Maurus Linde-
mayrs Die zwey wüchtigsten Dinge, das mit einem gängigen derben Sprichwort als Re-
fraindenebensoalltäglichenwiekonsensuell
unbeschreibbaren` VorgangdesAusschei-
dens zum Thema macht. Dass dieses Lied voll ausgelassener Fäkalkomik zweifelsfrei
demBenediktinerausNeukirchenzugeordnetwerdenkann, istnichtselbstverständlich.
Denn die Differenz zwischen anlassgebundener Performanz und schriftlicher Tradie-
rung, vielleicht auch der sich wandelnde Zeitgeschmack oder spätere Bedenken des
AutorshatteneineÜberlieferungseinergrobianistischenFrühwerkegroßteilsunterbun-
den. Sie fehlen in den Liederbüchern seines Bruders Peter Gottlieb Lindemayr ebenso
wie in den Konvoluten aus seinem näheren Umfeld. Immerhin scheint sie sein frühe-
rerSchüler,derLambacherRegenschoriKolomanFellner, fürcharakteristischundauch
gelungen genug erachtet zu haben, dass er sie für seine geplante Werkedition auswählte
und 1817 an den Linzer Verlag Eurich schickte. So konnten so urwüchsig-brachial ko-
mische Arbeiten wie Der kranke Bauer und der Dorfbader auf uns kommen, um ein
anschauliches Bild der spätbarocken Unterhaltungskultur im Studenten- und Kloster-
bereich(zuFaschingszeiten)zugeben.IndenDruckabergelangtendieseLiederdamals
noch nicht.8 Zwar hatte die Zensur 1821 dem Duett zwischen Bauern und Bader die
Imprimatur erteilt, nachdem sie ihm drei Jahre zuvor die Veröffentlichungstauglichkeit
abgesprochen hatte, doch schreckte der Herausgeber offenbar selbst vor der Vulgarität
zurück und nahm es nicht in das Textkorpus auf. Die zwey wüchtigsten Dinge scheint
Fellner sogar selbst aus seinem Mundum gestrichen zu haben, denn hier fehlt sowohl
der Beginn des Lieds als auch ein Zensurvermerk. Zum Glück ließen sich in anderen
Sammlungen weitere Belege nden, die zwar (in den letzten Strophen) etwas von Fell-
ners Fassung abweichen, im Allgemeinen aber nicht allzu weit vom Original entfernt
seindürften:
1
WasbrauchtsdenndasFratscheln,wasbrauchtsdenndasFragn;
Ihwill enk jadWahrat schönrundauhasagn.
Wieoft saitsmeinVata,
DaHanselmeinGfata:
Menschgibdihnagutwillidrein;
Denng'schissenundg'storbnmußsseyn.
2
FragtsKöni, fragtsKaiser, fragtsd'HerrnvonStand,
FragtsdLeut,dö inStadtn,unddöaufnLand.
Wiewurdsdirsniht reißen;
8 Maurus Lindermayr's [sic] Dichtungen in ob der ensischer Volksmundart. Von Verehrern seiner Muse
gesammelt.Linz: Inderk.k.priv. akademischenKunst-,Musik-undBuchhandlung1822.
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Bairisch-österreichische Dialektliteratur vor 1800
Eine andere Literaturgeschichte
- Title
- Bairisch-österreichische Dialektliteratur vor 1800
- Subtitle
- Eine andere Literaturgeschichte
- Authors
- Christian Neuhuber
- Stefanie Edler
- Elisabeth Zehetner
- Publisher
- Böhlau Verlag
- Location
- Wien
- Date
- 2019
- Language
- German
- License
- CC BY 4.0
- ISBN
- 978-3-205-20630-9
- Size
- 17.0 x 24.0 cm
- Pages
- 652
- Keywords
- Germanistik, Dialektliteratur, Bairisch, Sprachwissenschaft, österreichische Dialektkunst
- Categories
- Geschichte Historische Aufzeichnungen