Page - 21 - in Die Verwandlung
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Erst in der Abenddämmerung erwachte Gregor aus seinem schweren
ohnmachtsähnlichen Schlaf. Er wäre gewiß nicht viel später auch ohne
Störung erwacht, denn er fühlte sich genügend ausgeruht und ausgeschlafen,
doch schien es ihm, als hätte ihn ein flüchtiger Schritt und ein vorsichtiges
Schließen der zum Vorzimmer führenden Tür geweckt. Der Schein der
elektrischen Straßenlampen lag bleich hier und da auf der Zimmerdecke und
auf den höheren Teilen der Möbel, aber unten bei Gregor war es finster.
Langsam schob er sich, noch ungeschickt mit seinen Fühlern tastend, die er
erst jetzt schätzen lernte, zur Türe hin, um nachzusehen, was dort geschehen
war. Seine linke Seite schien eine einzige lange, unangenehm spannende
Narbe und er mußte auf seinen zwei Beinreihen regelrecht hinken. Ein
Beinchen war übrigens im Laufe der vormittägigen Vorfälle schwer verletzt
worden – es war fast ein Wunder, daß nur eines verletzt worden war – und
schleppte leblos nach.
Erst bei der Tür merkte er, was ihn dorthin eigentlich gelockt hatte; es war
der Geruch von etwas Eßbarem gewesen. Denn dort stand ein Napf mit süßer
Milch gefüllt, in der kleine Schnitten von Weißbrot schwammen. Fast hätte er
vor Freude gelacht, denn er hatte noch größeren Hunger, als am Morgen, und
gleich tauchte er seinen Kopf fast bis über die Augen in die Milch hinein.
Aber bald zog er ihn enttäuscht wieder zurück; nicht nur, daß ihm das Essen
wegen seiner heiklen linken Seite Schwierigkeiten machte – und er konnte
nur essen, wenn der ganze Körper schnaufend mitarbeitete – , so schmeckte
ihm überdies die Milch, die sonst sein Lieblingsgetränk war, und die ihm
gewiß die Schwester deshalb hereingestellt hatte, gar nicht, ja er wandte sich
fast mit Widerwillen von dem Napf ab und kroch in die Zimmermitte zurück.
Im Wohnzimmer war, wie Gregor durch die Türspalte sah, das Gas
angezündet, aber während sonst zu dieser Tageszeit der Vater seine
nachmittags erscheinende Zeitung der Mutter und manchmal auch der
Schwester mit erhobener Stimme vorzulegen pflegte, hörte man jetzt keinen
Laut. Nun vielleicht war dieses Vorlesen, von dem ihm die Schwester immer
erzählte und schrieb, in der letzten Zeit überhaupt aus der Übung gekommen.
Aber auch ringsherum war es so still, trotzdem doch gewiß die Wohnung
nicht leer war. »Was für ein stilles Leben die Familie doch führte«, sagte sich
Gregor und fühlte, während er starr vor sich ins Dunkle sah, einen großen
Stolz darüber, daß er seinen Eltern und seiner Schwester ein solches Leben in
einer so schönen Wohnung hatte verschaffen können. Wie aber, wenn jetzt
alle Ruhe, aller Wohlstand, alle Zufriedenheit ein Ende mit Schrecken
nehmen sollte? Um sich nicht in solche Gedanken zu verlieren, setzte sich
Gregor lieber in Bewegung und kroch im Zimmer auf und ab.
Einmal während des langen Abends wurde die eine Seitentüre und einmal
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Die Verwandlung
- Title
- Die Verwandlung
- Author
- Franz Kafka
- Date
- 1912
- Language
- German
- License
- PD
- Size
- 21.0 x 29.7 cm
- Pages
- 54
- Keywords
- Erzählung, Schriftsteller, Ungeziefer, Käfer, Insekt
- Categories
- Weiteres Belletristik