Page - 22 - in Die Verwandlung
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die andere bis zu einer kleinen Spalte geöffnet und rasch wieder geschlossen;
jemand hatte wohl das Bedürfnis hereinzukommen, aber auch wieder zuviele
Bedenken. Gregor machte nun unmittelbar bei der Wohnzimmertür halt,
entschlossen, den zögernden Besucher doch irgendwie hereinzubringen oder
doch wenigstens zu erfahren, wer es sei; aber nun wurde die Tür nicht mehr
geöffnet und Gregor wartete vergebens. Früh, als die Türen versperrt waren,
hatten alle zu ihm hereinkommen wollen, jetzt, da er die eine Tür geöffnet
hatte und die anderen offenbar während des Tages geöffnet worden waren,
kam keiner mehr, und die Schlüssel steckten nun auch von außen.
Spät erst in der Nacht wurde das Licht im Wohnzimmer ausgelöscht, und
nun war leicht festzustellen, daß die Eltern und die Schwester so lange
wachgeblieben waren, denn wie man genau hören konnte, entfernten sich jetzt
alle drei auf den Fußspitzen. Nun kam gewiß bis zum Morgen niemand mehr
zu Gregor herein; er hatte also eine lange Zeit, um ungestört zu überlegen,
wie er sein Leben jetzt neu ordnen sollte. Aber das hohe freie Zimmer, in dem
er gezwungen war, flach auf dem Boden zu liegen, ängstigte ihn, ohne daß er
die Ursache herausfinden konnte, denn es war ja sein seit fünf Jahren von ihm
bewohntes Zimmer – und mit einer halb unbewußten Wendung und nicht
ohne eine leichte Scham eilte er unter das Kanapee, wo er sich, trotzdem sein
Rücken ein wenig gedrückt wurde und trotzdem er den Kopf nicht mehr
erheben konnte, gleich sehr behaglich fühlte und nur bedauerte, daß sein
Körper zu breit war, um vollständig unter dem Kanapee untergebracht zu
werden.
Dort blieb er die ganze Nacht, die er zum Teil im Halbschlaf, aus dem ihn
der Hunger immer wieder aufschreckte, verbrachte, zum Teil aber in Sorgen
und undeutlichen Hoffnungen, die aber alle zu dem Schlusse führten, daß er
sich vorläufig ruhig verhalten und durch Geduld und größte Rücksichtnahme
der Familie die Unannehmlichkeiten erträglich machen müsse, die er ihr in
seinem gegenwärtigen Zustand nun einmal zu verursachen gezwungen war.
Schon am frühen Morgen, es war fast noch Nacht, hatte Gregor
Gelegenheit, die Kraft seiner eben gefaßten Entschlüsse zu prüfen, denn vom
Vorzimmer her öffnete die Schwester, fast völlig angezogen, die Tür und sah
mit Spannung herein. Sie fand ihn nicht gleich, aber als sie ihn unter dem
Kanapee bemerkte – Gott, er mußte doch irgendwo sein, er hatte doch nicht
wegfliegen können – erschrak sie so sehr, daß sie, ohne sich beherrschen zu
können, die Tür von außen wieder zuschlug. Aber als bereue sie ihr
Benehmen, öffnete sie die Tür sofort wieder und trat, als sei sie bei einem
Schwerkranken oder gar bei einem Fremden, auf den Fußspitzen herein.
Gregor hatte den Kopf bis knapp zum Rande des Kanapees vorgeschoben und
beobachtete sie. Ob sie wohl bemerken würde, daß er die Milch stehen
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Die Verwandlung
- Title
- Die Verwandlung
- Author
- Franz Kafka
- Date
- 1912
- Language
- German
- License
- PD
- Size
- 21.0 x 29.7 cm
- Pages
- 54
- Keywords
- Erzählung, Schriftsteller, Ungeziefer, Käfer, Insekt
- Categories
- Weiteres Belletristik