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spionieren; er verzichtete darauf, die Mutter schon diesmal zu sehen, und war
nur froh, daß sie nun doch gekommen war. »Komm nur, man sieht ihn nicht«,
sagte die Schwester, und offenbar führte sie die Mutter an der Hand. Gregor
hörte nun, wie die zwei schwachen Frauen den immerhin schweren alten
Kasten von seinem Platze rückten, und wie die Schwester immerfort den
größten Teil der Arbeit für sich beanspruchte, ohne auf die Warnungen der
Mutter zu hören, welche fürchtete, daß sie sich überanstrengen werde. Es
dauerte sehr lange. Wohl nach schon viertelstündiger Arbeit sagte die Mutter,
man solle den Kasten doch lieber hier lassen, denn erstens sei er zu schwer,
sie würden vor Ankunft des Vaters nicht fertig werden und mit dem Kasten in
der Mitte des Zimmers Gregor jeden Weg verrammeln, zweitens aber sei es
doch gar nicht sicher, daß Gregor mit der Entfernung der Möbel ein Gefallen
geschehe. Ihr scheine das Gegenteil der Fall zu sein; ihr bedrücke der Anblick
der leeren Wand geradezu das Herz; und warum solle nicht auch Gregor diese
Empfindung haben, da er doch an die Zimmermöbel längst gewöhnt sei und
sich deshalb im leeren Zimmer verlassen fühlen werde.
»Und ist es dann nicht so«, schloß die Mutter ganz leise, wie sie überhaupt
fast flüsterte, als wolle sie vermeiden, daß Gregor, dessen genauen Aufenthalt
sie ja nicht kannte, auch nur den Klang der Stimme höre, denn daß er die
Worte nicht verstand, davon war sie überzeugt, »und ist es nicht so, als ob wir
durch die Entfernung der Möbel zeigten, daß wir jede Hoffnung auf
Besserung aufgeben und ihn rücksichtslos sich selbst überlassen? Ich glaube,
es wäre das beste, wir suchen das Zimmer genau in dem Zustand zu erhalten,
in dem es früher war, damit Gregor, wenn er wieder zu uns zurückkommt,
alles unverändert findet und umso leichter die Zwischenzeit vergessen kann.«
Beim Anhören dieser Worte der Mutter erkannte Gregor, daß der Mangel
jeder unmittelbaren menschlichen Ansprache, verbunden mit dem
einförmigen Leben inmitten der Familie, im Laufe dieser zwei Monate seinen
Verstand hatte verwirren müssen, denn anders konnte er es sich nicht erklären,
daß er ernsthaft danach hatte verlangen könne, daß sein Zimmer ausgeleert
würde. Hatte er wirklich Lust, das warme, mit ererbten Möbeln gemütlich
ausgestattete Zimmer in eine Höhle verwandeln zu lassen, in der er dann
freilich nach allen Richtungen ungestört würde kriechen können, jedoch auch
unter gleichzeitigem schnellen, gänzlichen Vergessen seiner menschlichen
Vergangenheit? War er doch jetzt schon nahe daran, zu vergessen, und nur die
seit langem nicht gehörte Stimme der Mutter hatte ihn aufgerüttelt. Nichts
sollte entfernt werden; alles mußte bleiben; die guten Einwirkungen der
Möbel auf seinen Zustand konnte er nicht entbehren; und wenn die Möbel ihn
hinderten, das sinnlose Herumkriechen zu betreiben, so war es kein Schaden,
sondern ein großer Vorteil.
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Die Verwandlung
- Title
- Die Verwandlung
- Author
- Franz Kafka
- Date
- 1912
- Language
- German
- License
- PD
- Size
- 21.0 x 29.7 cm
- Pages
- 54
- Keywords
- Erzählung, Schriftsteller, Ungeziefer, Käfer, Insekt
- Categories
- Weiteres Belletristik