Page - 46 - in Die Verwandlung
Image of the Page - 46 -
Text of the Page - 46 -
er dies, wenn nicht das Unglück dazwischen gekommen wäre, vergangene
Weihnachten – Weihnachten war doch wohl schon vorüber? – allen gesagt
hätte, ohne sich um irgendwelche Widerreden zu kümmern. Nach dieser
Erklärung würde die Schwester in Tränen der Rührung ausbrechen, und
Gregor würde sich bis zu ihrer Achsel erheben und ihren Hals küssen, den sie,
seitdem sie ins Geschäft ging, frei ohne Band oder Kragen trug.
»Herr Samsa!« rief der mittlere Herr dem Vater zu und zeigte, ohne ein
weiteres Wort zu verlieren, mit dem Zeigefinger auf den langsam sich
vorwärtsbewegenden Gregor. Die Violine verstummte, der mittlere
Zimmerherr lächelte erst einmal kopfschüttelnd seinen Freunden zu und sah
dann wieder auf Gregor hin. Der Vater schien es für nötiger zu halten, statt
Gregor zu vertreiben, vorerst die Zimmerherren zu beruhigen, trotzdem diese
gar nicht aufgeregt waren und Gregor sie mehr als das Violinspiel zu
unterhalten schien. Er eilte zu ihnen und suchte sie mit ausgebreiteten Armen
in ihr Zimmer zu drängen und gleichzeitig mit seinem Körper ihnen den
Ausblick auf Gregor zu nehmen. Sie wurden nun tatsächlich ein wenig böse,
man wußte nicht mehr, ob über das Benehmen des Vaters oder über die ihnen
jetzt aufgehende Erkenntnis, ohne es zu wissen, einen solchen
Zimmernachbar wie Gregor besessen zu haben. Sie verlangten vom Vater
Erklärungen, hoben ihrerseits die Arme, zupften unruhig an ihren Bärten und
wichen nur langsam gegen ihr Zimmer zurück. Inzwischen hatte die
Schwester die Verlorenheit, in die sie nach dem plötzlich abgebrochenen Spiel
verfallen war, überwunden, hatte sich, nachdem sie eine Zeit lang in den
lässig hängenden Händen Violine und Bogen gehalten und weiter, als spiele
sie noch, in die Noten gesehen hatte, mit einem Male aufgerafft, hatte das
Instrument auf den Schoß der Mutter gelegt, die in Atembeschwerden mit
heftig arbeitenden Lungen noch auf ihrem Sessel saß, und war in das
Nebenzimmer gelaufen, dem sich die Zimmerherren unter dem Drängen des
Vaters schon schneller näherten. Man sah, wie unter den geübten Händen der
Schwester die Decken und Polster in den Betten in die Höhe flogen und sich
ordneten. Noch ehe die Herren das Zimmer erreicht hatten, war sie mit dem
Aufbetten fertig und schlüpfte heraus. Der Vater schien wieder von seinem
Eigensinn derartig ergriffen, daß er jeden Respekt vergaß, den er seinen
Mietern immerhin schuldete. Er drängte nur und drängte, bis schon in der Tür
des Zimmers der mittlere der Herren donnernd mit dem Fuß aufstampfte und
dadurch den Vater zum Stehen brachte. »Ich erkläre hiermit«, sagte er, hob
die Hand und suchte mit den Blicken auch die Mutter und die Schwester,
»daß ich mit Rücksicht auf die in dieser Wohnung und Familie herrschenden
widerlichen Verhältnisse« – hierbei spie er kurz entschlossen auf den Boden –
»mein Zimmer augenblicklich kündige. Ich werde natürlich auch für die Tage,
die ich hier gewohnt habe, nicht das Geringste bezahlen, dagegen werde ich
46
back to the
book Die Verwandlung"
Die Verwandlung
- Title
- Die Verwandlung
- Author
- Franz Kafka
- Date
- 1912
- Language
- German
- License
- PD
- Size
- 21.0 x 29.7 cm
- Pages
- 54
- Keywords
- Erzählung, Schriftsteller, Ungeziefer, Käfer, Insekt
- Categories
- Weiteres Belletristik