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Bemerkenswert ist hier zweierlei: Erstens stellten diese Ausführungen die gängigen
Museumskonzepte des frühen 20. Jahrhunderts buchstäblich vom Kopf auf die Füße.
Zum Zeitpunkt der Veröffentlichung von Boas᾿ Text waren gerade amerikanische
Museen noch in hohem Maße als Forschungsinstitutionen angelegt, an denen vor al-
lem in Disziplinen wie der Archäologie und Ethnologie mehr wissenschaftliche Ar-
beit geleistet wurde als an vielen Universitäten. Entsprechend wurden Ausstellungen
im Allgemeinen von den Objekten her gedacht und das Museum selbst konstituierte
sich fast ausschließlich über seine Sammlung – Besucher und der Umgang mit ihnen
waren eher eine Randerscheinung (vgl. Redman 2010: 2).
Zweitens erkannte Boas das Problem der Besucherperspektive im Museum als
ein räumliches: Exponate und Besucher sind für ihn Angelpunkte von Strategien se-
mantischer Raumbewältigung. Dabei hat in seiner Konzeption des Museums aber ge-
rade das Scheitern solcher kuratorischer Strategien didaktisch produktive Auswir-
kungen: Was das Museum als Vermittlungsinstitution auszeichnet ist eben gerade,
dass seine Macher nur vage vorausahnen können, welche konkreten Inhalte die Be-
sucher den Exponaten entnehmen werden (vgl. Boas 1907: 922). Die Konsequenz,
die Boas daraus zieht, ähnelt der Absage, die Stefan Paul fast einhundert Jahre später
dem »schmalen Gang« erteilt: Es sei ein zum Scheitern verurteiltes und der Beschaf-
fenheit der Institution völlig widerläufiges Unterfangen, Ausstellungen um lineare
Erzählungen herum zu konzipieren. Stattdessen gelte es, den goldenen Schnitt zu fin-
den zwischen dem didaktischen ›roten Faden‹, der einer Ausstellung nachvollzieh-
bare Zusammengehörigkeit verleiht, und den potenziell unzähligen ›points of view‹
der Objektdeutung, die zwischen Exponaten und Besuchern entstehen. Je mehr un-
terschiedliche Blickwinkel ein museales Konzept bedienen kann, desto mehr schöpft
es die medialen Möglichkeiten der Institution aus. Zugleich jedoch kann eine zu weit-
reichende epistemische Offenheit die Objekte unscharf und beliebig werden lassen.
Die Herausforderung für den Ausstellungsmacher ist daher nach Boas die einer kon-
zeptuellen Eingrenzung der Ausstellung auf eine Anzahl von Zugängen, welche die
Vieldeutigkeit der Exponate zwar als Stärke ausspielt, dabei aber vermeidet, dass die
Vielfalt möglicher Bedeutungen allen pädagogischen Anspruch unter sich begräbt
(vgl. ebd.: 926).
Richard Saul Wurman behandelt in Information Anxiety ein ganz ähnliches Prob-
lem: Jede Form von Informationsverarbeitung hänge ganz entscheidend vom »van-
tage point« des Rezipienten ab – welcher wie Boas᾿ »point of view« sowohl Kennt-
nisse und Vorannahmen beinhaltet, die von Rezipient zu Rezipient variieren, als aber
auch die technische Beschaffenheit des Mediums, über welches die Informationen
vermittelt werden. Die Art und Weise, wie Information situiert ist, entscheidet mit
darüber, was ein Rezipient mit ihr tun kann: ob sie aus unterschiedlichen Perspekti-
ven erfasst werden kann, ob man sich ihr nähern und von ihr entfernen, sie heranzoo-
men kann, ob Detailansichten möglich sind und ob sie für sich allein oder im Kontext
weiterer Information präsentiert wird (vgl. Wurman 1989: 65). Als ein einfaches und
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Dinge – Nutzer – Netze
Von der Virtualisierung des Musealen zur Musealisierung des Virtuellen
- Title
- Dinge – Nutzer – Netze
- Subtitle
- Von der Virtualisierung des Musealen zur Musealisierung des Virtuellen
- Author
- Dennis Niewerth
- Publisher
- transcript Verlag
- Date
- 2018
- Language
- German
- License
- CC BY-NC-ND 4.0
- ISBN
- 978-3-8394-4232-6
- Size
- 14.8 x 22.5 cm
- Pages
- 428
- Keywords
- Virtualität, Kulturerbe, Digitalisierung, Neue Medien, Kulturmanagement, Museumswissenschaft, Digitale Medien, Mediengeschichte
- Category
- Medien