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praxis erachtet es dann üblicherweise als den didaktisch richtigen Weg, solche Platz-
halter ausdrücklich als Kopien auszuweisen und transparent zu machen, warum das
Original nicht ausgestellt werden kann (vgl. Beier-de Haan 2010: 2f.). Reproduktio-
nen dürfen also durchaus Teil von Ausstellungen sein, solange ihr Dasein erstens im
Ausstellungskontext als wichtig erachtet wird, zweitens plausible Gründe dafür vor-
liegen, nicht auf das Original zurückzugreifen und drittens der Besucher nicht in die
Irre geführt und glauben gemacht wird, er habe ein Original vor sich. In diesem Sinne
kann also offenbar auch Kopien durch Museen und ihre Kuratoren das Prädikat ›au-
thentisch‹ verliehen werden: Die Objekte sind keine tatsächlichen historischen Über-
reste, weisen aber zumindest augenscheinlich in der musealen Situation all deren aus-
stellungsrelevante Merkmale auf. Nichtsdestoweniger bleibt die Autorität und Not-
wendigkeit des Originals in der Museumsarbeit von der museologischen Fachlitera-
tur weitgehend unangefochten.
Einer der zentralsten und meistzitierten Texte über die Affektqualität des Authen-
tischen und das Verhältnis von Original und Kopie ist nach wie vor Walter Benjamins
1935 entstandener Aufsatz über Das Kunstwerk im Zeitalter seiner technischen Re-
produzierbarkeit. In diesem Klassiker der Kunsttheorie diagnostiziert Benjamin zwei
Phänomene, welche sich aus der massenhaften Reproduzierbarkeit von Kunstgegen-
ständen ergeben: Auf der einen Seite steht die Auflösung der originären und überlie-
ferten sozialen Kontexte, in welchen die Objekte ursprünglich zu rezipieren waren,
auf der anderen der Verlust ihrer ›Aura‹. Beide Erscheinungen begreift Benjamin als
ursächlich zusammenhängend.
Dabei ist Benjamins im Titel schon programmatisch vorgegebene Prämisse, dass
sich das Wesen der Reproduktion von Kunstwerken mit ihrer Technisierung – Ben-
jamin bezieht sich hier vornehmlich auf mechanisch-photographische Abbildungs-
verfahren und den modernen Druckereibetrieb – einschneidend verändert habe. Zwar
seien Kunstwerke schon immer kopiert worden, aber im manuellen Nachvollzug der
Entstehung des Originals durch den Kopisten habe das Original gleichsam immer
seine Autorität bewahrt. Die manuelle Kopie sei entsprechend lediglich Vertreter des
Originals und Verweis auf dasselbe. In der technischen Reproduktion hingegen ver-
liere das Original seine Autonomie. Es ist nicht länger das ›Eigentliche‹ des Repro-
duktionsvorganges, sondern nur mehr eines unter vielen Funktionselementen inner-
halb eines industriellen Apparates, der identische Abbilder in astronomischer Zahl
ausspeit (vgl. Benjamin 2008: 12). Oder anders ausgedrückt: In technischen Repro-
duktionsverfahren sieht Benjamin den Subjektcharakter des Originals aufgehoben,
den es in der manuellen Nachbildung noch besessen hat.
Originale besetzen für Benjamin einen bestimmten und bestimmbaren Ort sowohl
in der sozialen als auch in der historischen Welt. Sie sind für soziale Räume und
Zusammenhänge geschaffen worden, zu welcher sie eine repräsentative Referenz
aufweisen. Das Ergebnis technischer Reproduktion ist laut Benjamin eine Loslösung
der Originale von ihren Ursprungskontexten und damit zugleich der Verlust ihrer
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Dinge – Nutzer – Netze
Von der Virtualisierung des Musealen zur Musealisierung des Virtuellen
- Title
- Dinge – Nutzer – Netze
- Subtitle
- Von der Virtualisierung des Musealen zur Musealisierung des Virtuellen
- Author
- Dennis Niewerth
- Publisher
- transcript Verlag
- Date
- 2018
- Language
- German
- License
- CC BY-NC-ND 4.0
- ISBN
- 978-3-8394-4232-6
- Size
- 14.8 x 22.5 cm
- Pages
- 428
- Keywords
- Virtualität, Kulturerbe, Digitalisierung, Neue Medien, Kulturmanagement, Museumswissenschaft, Digitale Medien, Mediengeschichte
- Category
- Medien