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Das Museum: Ein Umriss | 73
schinelles Ineinandergreifen von Einzelkomponenten − ganz ähnlich, wie es Rhein-
bergers Modell des Experimentalsystems mit der Produktion von Wissen tut. Und
ebenfalls ähnlich dem Rheinberger᾿schen Konzept lenkt auch der Atmosphärenbe-
griff den Blick unweigerlich vom Einzelobjekt auf das Gesamtarrangement, das über
dessen Wirkung und Rolle mit- und vorentscheidet.
Böhmes ästhetischer Entwurf ist vor allen Dingen eine Raumästhetik, oder ge-
nauer noch: Eine Ästhetik des Zwischenraumes. Wie Richard Saul Wurman und
Franz Boas die Herausforderung von Wissensvermittlung darin sehen, die den Inhal-
ten gegenüberstehenden Blickwinkel der Lernenden vorauszuahnen, dreht sich für
Böhme die Schaffung atmosphärischer Räume immer um die Verortung des empfin-
denden Betrachters zwischen den Dingen. Als den Gegenstand atmosphärischer Äs-
thetik bezeichnet er die »Beziehung zwischen Umgebungsqualitäten und menschli-
chem Befinden« (ebd.: 23) − »dieses Und, dieses zwischen Beidem [...], das sind die
Atmosphären« (ebd.).
Weil die Atmosphäre für Böhme eben ins Befinden (und nicht etwa den Intellekt)
mündet, verschließt sie sich der »Urteilsästhetik« (ebd.) der Kunstkritik. Ja mehr
noch: Laut Böhme ist sogar deren mediales Äußerungsvermögen dem Phänomen ›At-
mosphäre‹ nicht angemessen, weil die beurteilende, interpretierende Ästhetik sich
mit der Idee vom Zeichenhaften des Kunstwerkes auch der präzisen sprachlichen
Ausformulierung von Bedeutungen verschrieben habe. Atmosphären hingegen seien
in diesem Modus des Sprechens nicht abschließend zu erfassen, weil sie auf keine
äußere Referenz verweisen. Böhme führt hier unter Rückgriff auf Umberto Ecos Ein-
führung in die Semiotik (und zugleich in Abgrenzung zu dieser) das Beispiel der
Mona Lisa an: Das Bild der Gioconda habe sich so tief in das kulturelle Bewusstsein
der westlichen Welt eingegraben, dass die Person, deren ikonische Abbildung es ist,
längst nicht mehr sein Signifikat darstelle. Vielmehr überlagere der Ruhm des Ge-
mäldes als Gemälde seine Funktion als Abbildung von etwas so sehr, dass die Mona
Lisa für die meisten Betrachter nur mehr sich selbst signifiziere:
Das Bild ist in gewisser Weise selbst, was es darstellt, d.h., das Dargestellte ist in und durch
das Bild präsent. Natürlich kann man auch ein solches Bild lesen und deuten, aber das heißt die
Erfahrung der Präsenz des dargestellten, nämlich die Atmosphäre des Bildes, überspringen oder
gar verleugnen. (Ebd.: 24)
Böhme selbst diagnostiziert eine enge Verwandtschaft zwischen seiner Atmosphäre
und Benjamins Aura und verwendet die Begriffe stellenweise sogar synonym (vgl.
ebd.: 26f.). Ihnen beiden sei gemeinsam, dass sie eine schwer fassbare Qualität in der
Dingwahrnehmung benennen wollen − ein kaum systematisierbares und nicht auf
einfache Deutungen herunterzubrechendes »Mehr« (ebd.: 26), das keine klare Sub-
stanz besitze, zugleich aber doch »etwas räumlich Ergossenes« (ebd.: 27) sei, das
vom Betrachter »geatmet«, ja »leiblich aufgenommen« werde (ebd.). In Abgrenzung
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Dinge – Nutzer – Netze
Von der Virtualisierung des Musealen zur Musealisierung des Virtuellen
- Title
- Dinge – Nutzer – Netze
- Subtitle
- Von der Virtualisierung des Musealen zur Musealisierung des Virtuellen
- Author
- Dennis Niewerth
- Publisher
- transcript Verlag
- Date
- 2018
- Language
- German
- License
- CC BY-NC-ND 4.0
- ISBN
- 978-3-8394-4232-6
- Size
- 14.8 x 22.5 cm
- Pages
- 428
- Keywords
- Virtualität, Kulturerbe, Digitalisierung, Neue Medien, Kulturmanagement, Museumswissenschaft, Digitale Medien, Mediengeschichte
- Category
- Medien