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Netz und Virtualität | 97
umfassend ergreifendes System zur Verwaltung von Wissensinhalten gegenüber-
stellte. Information sollte nicht in geschlossene und eindimensional fortlaufende Nar-
rative eingezwängt, sondern in kleine, disparate Teilbereiche und Themen aufgespal-
ten werden, die dann wiederum mit Querverweisen auf verwandte Wissens-›Einhei-
ten‹ versehen werden können. Karteikästen sollten im Gegensatz zu Büchern inter-
aktiv sein, Wissen nicht innerhalb eines festen Konzeptes, sondern pfadabhängig ver-
mitteln und vor allem prozesshaften Charakter aufweisen, anstatt finalisierte und
nicht mehr verhandelbare Endprodukte einer wissenserzeugenden Anstrengung zu
sein. Eine Kartei lässt sich jederzeit erweitern, mit neuen Verweisen versehen, nöti-
genfalls auch neu sortieren. Der Argumentationsverlauf ist hier also in weiten Teilen
schon derselbe wie jener der Hypertexttheorie: Das ›Verzetteln‹ wird als dezidiert
moderne epistemische Kulturtechnik vorgestellt, die einem immer rasanter anwach-
senden Wissensfundus gerecht werden soll (vgl. ebd.: 109f.).
Die Ideengeschichte modularisierter und frei kombinierbarer Texte lässt sich in-
des noch weiter zurückverfolgen. Urahnen des Hypertextes erkennt Krameritsch auch
in den vier Bänden der Bibliotheca Universalis Conrad Gessners, jener Ur-Bibliogra-
phie der dem Abendland bekannten Literatur, die 1549 zum Abschluss gelangte und
alphabetische Autorenverzeichnisse mit thematischen Indizes und einem umfangrei-
chen Anmerkungsapparat verband (vgl. ebd.: 111). Roberto Simanowski streicht vor
allem die Bedeutung der kombinatorischen Poetik des Barock und die mit ihr ver-
bundene Mathematisierung von Texten als ein frühes In-Erscheinung-Treten der spä-
teren Hypertext-Idee heraus. Er verweist hier u.a. auf den Wechselsatz aus dem zwi-
schen 1648 und 1653 entstandenen Poetischen Trichter Georg Philipp Harsdörffers
(vgl. Simanowski 2002: 66) ‒ einen zweizeiligen Reim im siebenhebigen Jambus, in
welchem in jeder Zeile an jeweils einer Stelle eines von je 11 vorgegebenen Substan-
tiven eingesetzt werden darf, so dass insgesamt fast 40 Millionen verschiedene Per-
mutationen möglich sind (Martin 2011: 202):
Auf Angst / Noht / Leid / Haß / Schmach / Spott / Krieg / Sturm / Furcht / Streit / Müh᾿ / und
Fleiß folgt Lust / Raht / Trost / Gunst / Ruhm / Lob / Sieg / Ruh / Mut / Nutz / Lohn / und Preiß.
(Harsdörffer 1648: 51; vgl. Martin 2011: 202.)
Die kombinatorische Logik hinter diesem Sprachspiel wurde den Barock hindurch
immer wieder aufgegriffen (idealtypisch u.a. in Quirinus Kuhlmanns Libes-Kuß von
1671, vgl. Simanowksi 2002: 66; vgl. Martin 2011: 202f.). Die Begeisterung für
Sprache als mathematisierbares funktionales System ist kaum überraschend, wenn
wir uns an das erste Kapitel dieser Arbeit und das von Horst Bredekamp diagnosti-
zierte mechanistische Weltmodell der Frühmoderne zurückerinnern, aus dem auch
die Wunderkammer hervorgehen sollte: Wie die Welt als Ganzes wird auch die
menschliche Kommunikation als ein Gefüge von Gefügen – von Buchstaben in Wor-
ten in Sätzen in Texten – begriffen, die einerseits variierbar und anderseits rigiden
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Dinge – Nutzer – Netze
Von der Virtualisierung des Musealen zur Musealisierung des Virtuellen
- Title
- Dinge – Nutzer – Netze
- Subtitle
- Von der Virtualisierung des Musealen zur Musealisierung des Virtuellen
- Author
- Dennis Niewerth
- Publisher
- transcript Verlag
- Date
- 2018
- Language
- German
- License
- CC BY-NC-ND 4.0
- ISBN
- 978-3-8394-4232-6
- Size
- 14.8 x 22.5 cm
- Pages
- 428
- Keywords
- Virtualität, Kulturerbe, Digitalisierung, Neue Medien, Kulturmanagement, Museumswissenschaft, Digitale Medien, Mediengeschichte
- Category
- Medien