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154 | Dinge – Nutzer – Netze
Paul Valérys anderthalb Jahrzehnte zuvor entstandener Text über das Museum lässt
sich durchaus als eine Antizipation der Benjamin᾿schen Metaphorik lesen, die für
Valéry allerdings ausdrücklich nicht metaphorisch ist. Denn während Benjamin mit
seinem Bild von Engel, Sturm und Trümmern allgemein bleibt und vor allem die
schwierige Position des Gegenwartsmenschen im Schatten verfehlter geschichtlicher
Entwicklung unterstreichen will, betrachtet Valéry die Anhäufung historischer Trüm-
mer vor der Bugwelle des Fortschritts ganz konkret in Form von Dingen, die in Mu-
seen landen. Während Benjamins Engel seine Trümmer nur in der Rückschau be-
trachten und selbst nicht zurückkehren kann, um sie wiederaufzurichten, drängen sich
Valéry die Bruchstücke der Vergangenheit regelrecht auf. Wo Benjamins Trümmer
unberührbar und irreparabel hinter dem Betrachter zurückbleiben, wird für das Mu-
seum nach Valéry gerade die Persistenz und Präsenz der Überreste zum Problem.
Engel dürfen die Vergangenheit offenbar verzweifelnd hinter sich zurücklassen, wäh-
rend wir sie einlagern, verwalten und präsentieren müssen – und das Wort ›präsen-
tieren‹ lässt sich ja durchaus auch lesen als: ins Präsens entführen und damit verge-
genwärtigen.
Dabei ist, sofern die ausgestellten Objekte nicht zeitgenössisch sind, diese Ab-
duktion der Objekte aus ihrem historischen Ursprungszusammenhang immer auch
ein Stück weit Adoption. Folgt man Valérys Plot von der sozialen Aufgabe des Mu-
seums, so fängt es ja gerade jene Objekte auf, die »ihre Mutter die Architektur« (Va-
léry 1958: 7) verloren haben. Der historische Bruch, der nach Pierre Nora erst den
Gedächtnisort ermöglicht, muss also vollzogen sein, bevor sich das Museum für ei-
nen Gegenstand zu interessieren beginnt, oder genauer: Die Attribute jener histori-
schen Lebenswelt, aus welcher das Objekt hervorgegangen ist, müssen in ausreichen-
dem Maße aus unserer Erfahrungswirklichkeit verschwunden sein, bevor das Objekt
von uns als Verkörperung einer Differenz wahrgenommen werden kann. Das ›Prob-
lem‹ der Museen, wie Valéry es diagnostiziert, lässt sich aus dieser Warte auch so
lesen, dass zu viele wahllos nebeneinander gestellte Differenzen am Ende kein kon-
kretes ›Anderes‹ mehr zu bezeichnen imstande sind, sondern sich in völlig beliebiger
Alterität um ihrer selbst willen verlieren:
Das Ohr würde es nicht ertragen, zehn Orchester auf einmal anhören zu müssen... Der Geist
vermag nicht, mehrere unterschiedene Unternehmungen auf einmal zu verfolgen oder durch-
zuführen, und gleichzeitige Gedankengänge gibt es nicht. Den Augen aber wird bei jedem Auf-
winkeln ihrer Pforten und im Augenblick selbst, da sie wahrnehmen, zugemutet, ein Porträt,
ein Sehstück, ein Kücheninneres und einen Triumphzug einzulassen, Gestalten verschiedenster
Zuständlichkeit und Größenordnungen – mehr noch: Sie sollen in einem und demsel-
ben Schauen Harmonien und Malweisen aufnehmen, die nichts miteinander zu tun haben.
(Ebd.)
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Dinge – Nutzer – Netze
Von der Virtualisierung des Musealen zur Musealisierung des Virtuellen
- Title
- Dinge – Nutzer – Netze
- Subtitle
- Von der Virtualisierung des Musealen zur Musealisierung des Virtuellen
- Author
- Dennis Niewerth
- Publisher
- transcript Verlag
- Date
- 2018
- Language
- German
- License
- CC BY-NC-ND 4.0
- ISBN
- 978-3-8394-4232-6
- Size
- 14.8 x 22.5 cm
- Pages
- 428
- Keywords
- Virtualität, Kulturerbe, Digitalisierung, Neue Medien, Kulturmanagement, Museumswissenschaft, Digitale Medien, Mediengeschichte
- Category
- Medien