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Ich kann offen reden. Sie heiratete später, ein Jahr nachdem das Verlöbnis
gelöst war, einen jungen, adligen Offizier, starb aber, nachdem sie ihm das
erste Kind, ein blondlockiges Töchterchen, geschenkt hatte. –
In ihrem Elternhaus, wo sich täglich eine größere Gesellschaft befand,
blieb ich gewöhnlich bis gegen die sechste Abendstunde, machte dann meinen
Spaziergang, besuchte das Theater und kehrte um zehn Uhr nachts nachhause
zurück, um den nächsten Tag dieselbe Lebensweise fortzuführen.
Früh, wenn ich meine drei Treppen langsam niederstieg, traf ich auf dem
Vorraume des ersten Stockes stets den Hausbesorger, der die weiße Steinfliese
reinigte. Er grüßte und begann ein Gespräch. Tag für Tag dasselbe. Vom
Wetter erst, dann, wie ich zufrieden sei mit meiner Wohnung und dergleichen.
Da der Alte nie enden wollte, fragte ich ihn immer nach seinen Kindern,
worauf er seufzte und zwischen zusammengepreßten Zähnen hervorstieß: »‘s
ist ein Kreuz! Die machen Sorge, Herr!« Damit wars zu Ende. – Einmal an
einem, an einem Dienstag, erkundigte ich mich, nur um etwas zu sagen, wer
denn neben mir wohne. – Die Frage ward beantwortet, just wie sie gestellt
war: nur so – oben hin. »Eine Näherin, ein armes Ding, ein häßliches … «
murrte er, ohne vom Boden aufzusehen. Das war Alles.
Ich hatte diese Auskunft längst vergessen, als ich sie – die Näherin, wie ich
damals richtig vermutete – im dämmerigen Flur des Hauses traf. An einem
Sonntagvormittag war es. Ich hatte länger geschlafen und ging eben aus,
während sie, ein kleines Buch in der Hand, wahrscheinlich aus der Kirche
zurückkehrte. Eine armselige Gestalt: zwischen den spitzen Schultern, die ein
verschossener, grüner, fast bis zur Erde reichender Mantel deckte, wiegte sich
der Kopf, in dem zuerst die lange, dünne Nase und die hohlen Wangen
auffielen. Die schmalen, leicht geöffneten Lippen zeigten unsaubere Zähne,
das Kinn war eckig und sprang weit vor. Bedeutend in diesem Gesichte
schienen nur die Augen. Nicht daß sie schön gewesen wären, aber sie waren
groß und sehr schwarz – wenn auch glanzlos. So schwarz, daß das tiefdunkle
Haar fast grau erschien. – Ich weiß nur, daß der Eindruck, den dies Wesen auf
mich machte, keineswegs ein angenehmer war. Ich glaube sie sah mich nicht
an. Indessen blieb mir keine Zeit über diese gleichgültige Begegnung weiter
nachzudenken, da ich knapp vor dem Tore einem Freund in die Hände fiel, in
dessen Gesellschaft ich den ganzen Vormittag verbrachte. Dann vergaß ich
überhaupt, daß ich eine Nachbarin hatte, zumal es, trotzdem wir hart Tür an
Tür waren, nebenan Tag und Nacht ganz stille blieb. – So wäre es wohl
fortgegangen, wenn nicht eines Nachts durch Zufall – oder wie soll ich es
nennen – das Unerwartete, Niegeahnte geschehen wäre.
Im Hause meiner Braut fand in den letzten Tagen des Aprils eine
Gesellschaft statt, die, lange besprochen und vorbereitet, ganz trefflich verlief
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Die Näherin
- Title
- Die Näherin
- Author
- Rainer Maria Rilke
- Date
- 1894
- Language
- German
- License
- PD
- Size
- 21.0 x 29.7 cm
- Pages
- 10
- Categories
- Weiteres Belletristik