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unangenehm. Ich wollte mich los machen. Allein ihre Augen ruhten so starr
in den meinen, als webten diese Blicke ein unsichtbares Band um mich. Sie
zog mich immer mehr an sich, immer mehr. Sie drückte heiße, lange Küsse
auf meine Lippen … Da verlöschte die Kerze. –
Am anderen Morgen erwachte ich mit schwerem Kopf, Kreuzschmerzen
und bitterer Zunge. Neben mir in den Kissen des Bettes schlief sie. Das blasse
eingefallene Gesicht, der magere Hals, dieser flache entblößte Busen flößte
mir Schrecken ein. Ich richtete mich langsam auf. Die dumpfige Luft lastete
auf mir. Ich blickte mich um: der schmutzige Tisch, der abgenutzte,
dünnbeinige Sessel, die eingegangene Blume auf dem Fensterbrett – Alles
machte den Eindruck des Elenden, Verkümmerten. Da regte sie sich. Sie legte
wie träumend eine Hand auf meine Schulter. Ich betrachtete diese Hand; die
langen dickknöcheligen Finger mit den schmutzigen, kurzen, breiten Nägeln,
die Haut an den Spitzen braun und zerstochen … Mich ergriff ein Abscheu
vor diesem Wesen. Ich sprang empor, riß die Tür auf, und rannte in mein
Zimmer. Dort ward mir leichter. Noch weiß ich, daß ich bei meiner Tür den
Riegel vorschob – soweit es ging. –
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book Die Näherin"
Die Näherin
- Title
- Die Näherin
- Author
- Rainer Maria Rilke
- Date
- 1894
- Language
- German
- License
- PD
- Size
- 21.0 x 29.7 cm
- Pages
- 10
- Categories
- Weiteres Belletristik