Page - (000008) - in Die Näherin
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Tag um Tag verging in ganz derselben Weise, wie früher. Einmal, vielleicht
eine Woche später, als ich mich schon zu Ruhe begeben hatte, stieß ich
zufällig mit dem Ellebogen gegen die Wand. Ich vernahm, daß dieses
unabsichtliche Klopfen sofort beantwortet wurde. Ich blieb still. – Dann
schlummerte ich ein. Im Halbschlaf plötzlich schien mir, daß meine Tür
geöffnet würde. Im nächsten Augenblick fühlte ich einen Körper, der sich an
mich schmiegte. Sie war bei mir. In meinen Armen verbrachte sie die Nacht.
Ich wollte sie fortschicken, oft. Aber sie blickte mich mit ihren großen Augen
an, und das Wort erstarb auf der Lippe. O es war entsetzlich, die warmen
Glieder dieses Wesens neben mir zu fühlen, dieses häßlichen, frühgealterten
Mädchens; und doch fand ich nicht die Kraft …
Manchmal begegnete ich ihr im Treppenhaus. Sie ging an mir vorbei, wie
zum ersten Male: – wir kannten uns nicht. Sehr oft kam sie zu mir. Leise,
ohne ein Wort zu sprechen, trat sie ein und hielt mich gebannt durch ihren
Blick. Ich war willenlos.
Endlich beschloß ich der Sache ein Ende zu machen. Mir kam es wie ein
Verbrechen vor gegen meine Braut, das Bett mit diesem Weibe zu teilen, das
sich mit solcher Aufdringlichkeit an mich schmiegte, und das doch
nichteinmal – das Recht der Liebe besaß! –
Ich kam viel zeitiger nachhause und verriegelte sofort meine Türe. Als die
neunte Abendstunde heranrückte, kam sie. Da sie die Tür versperrt fand, ging
sie wieder weg; sie mochte wähnen ich sei nicht zuhause. Aber ich war
unvorsichtig. Ich schob den schweren Schreibtischsessel etwas jäh zurück.
Das mußte sie vernommen haben. Im nächsten Augenblick pochte es. Ich
blieb still. Noch einmal. Dann ungeduldig ohne Unterlaß. Jetzt hörte ich sie
schluchzen – lange, lange … Die halbe Nacht mußte sie an meiner Türe
verbracht haben, Aber ich war stark geblieben; ich fühlte, daß dieses
Ausharren den Zauber gebrochen hatte. –
Den nächsten Tag traf ich sie auf der Treppe. Sie ging sehr langsam. Als
ich ganz in ihrer Nähe war, schlug sie die Augen auf. Ich erschrak: In diesen
Augen lag ein unheimliches Flimmern und Drohen … Ich lachte über mich
selbst. – Ich war doch ein rechter Tor! Dieses Mädchen! Und ich schaute ihr
nach, wie sie so schwerfällig die Füße auf die Steinstufen setzte und
hinabhinkte …
Am Nachmittage brauchte der Chef meiner, so daß der gewohnte Besuch
bei Hedwig unterbleiben mußte. Abends, als ich in meine Stube kam, fand ich
einen Brief des Vaters meiner Braut vor, der mich in das größte Staunen
versetzte. Er lautete:
»… Unter den obwaltenden Verhältnissen werden Sie es begreifen, daß ich
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book Die Näherin"
Die Näherin
- Title
- Die Näherin
- Author
- Rainer Maria Rilke
- Date
- 1894
- Language
- German
- License
- PD
- Size
- 21.0 x 29.7 cm
- Pages
- 10
- Categories
- Weiteres Belletristik