Page - (000010) - in Die Näherin
Image of the Page - (000010) -
Text of the Page - (000010) -
nahm sie in sein Cabinet. Eine Stunde blieb sie drin. Eine Stunde, gnädiger
Herr! Dann kam sie heraus, küßte dem gnädigen Herrn die Hand … «
»Wie sah sie aus?« unterbrach ich ihn.
»Blaß, mager, häßlich.«
»Groß?«
»Recht groß.«
»Augen?«
»Schwarz, auch die Haare.« Der Alte schwatzte noch weiter. Ich wußte
genug. – Alle Worte des entsetzlichen Briefes wurden mir klar:
Verpflichtungen! … Bitterer Groll rege sich in mir. Ich ließ den Diener stehen
und stürzte hinab. Ich lief durch die Straßen bis zu meinem Hause. Vor dem
Tor standen ein paar Leute beisammen. Männer und Weiber. Sie sprachen
heftig und leise. Ich stieß sie rauh beiseite. Dann drei Treppen hinan ohne
Atemholen. Ich mußte zu ihr, ihr sagen … Ich wußte nicht was ich sagen
würde, aber ich fühlte, daß mir die rechte Zeit die rechten Worte leihen
werde …
Auch auf der Treppe begegnete ich Männern. Ich achtete ihrer nicht. Oben.
– Ich riß die Tür auf. Heftiger Carbolgeruch drang mir entgegen. Ein hartes
Wort erstarb mir auf den Lippen. Da lag sie auf den grauen Linnen des Bettes
in bloßem Hemde. Den Kopf weit zurück, die Augen geschlossen. Die Hände
hingen schlaff. Ich trat näher. Sie zu berühren wagte ich nicht. – Mit den
klaffenden Lippen und den unterlaufenen Augenlidern machte sie ganz den
Eindruck einer Ertrunkenen. Mich schauerte. Ich war allein im Zimmer. Die
scheidende, kalte Sonne beschien den schmutzigen Tisch – den Bettrand …
Ich beugte mich zu dem Weibe. Ja, sie war tot. Die Farbe des Gesichtes war
bläulich. Ein übler Geruch ging von ihr aus. Und ein Ekel erfaßte mich, ein
Abscheu …
back to the
book Die Näherin"
Die Näherin
- Title
- Die Näherin
- Author
- Rainer Maria Rilke
- Date
- 1894
- Language
- German
- License
- PD
- Size
- 21.0 x 29.7 cm
- Pages
- 10
- Categories
- Weiteres Belletristik