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Armut als zentrales Problem für frühpädagogische Organisationen?
ElFo—Elementarpädagogische Forschungsbeiträge (2019), 1 (2) S. 42-52
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finanzielle Ressourcenknappheit selbst aktiv oder durch das Ausschöpfen sozialer Ressourcen privat zu
kompensieren; sie versuchen zudem, ihren Kindern bestimmte Erfahrungen durch die
Inanspruchnahme kostenloser Angebote (z. B. Kinderfestivals und Kinderschminken,
Kinderschwimmkurs) zu ermöglichen. Die Kompensationsfähigkeit dieser Eltern wird durch den Rekurs
auf Intellekt als angeborene Fähigkeit gesehen und damit naturalisiert.
Demgegenüber werden Eltern positioniert, welche Armut nicht privat kompensieren können. Ihnen
wird Passivität, niedriger Bildungsgrad und -affinität sowie die Unfähigkeit zur Bewältigung einiger
alltagspraktischer Aufgaben zugeschrieben:
„[…] die [Kinder] einfach auch gar nicht mehr in die Schule geschickt werden und so, weil man nicht mal
mehr das auf Reihe kriegt. Oder wenn man fragt: ‚Warum bekommen Sie denn das neunte Kind?‘
‚Aktuell, ja, weil ich vergesse die Pille zu nehmen.‘ Also die nicht mal schaffen einmal am Tag sich
irgendwie einen Wecker zu stellen eine Erinnerung oder irgendwas an ihren Tagesablauf so zu docken.“
(Z. 1123-1126)
Dies ist teilweise mit integritätsverletzenden und pauschalisierenden Herabsetzungen verbunden. So
wird das Gebären (vieler) Kinder als persönliches Versagen der Mutter (!) gedeutet und nicht
anderweitig kontextualisiert. Eine Fachkraft schlägt zur Lösung Maßnahmen zur Geburtenkontrolle
vor: „[…] dann soll sie sich halt eine Spirale schieben, da musst dich an gar nichts mehr erinnern“ (Z.
1130-1131). In der Diskussion stellt sich dies als geteilte Werthaltung gegenüber „solchen Eltern“
heraus, was die gemeinsame Erzählung, die Zustimmung und das Ausbleiben von Widerspruch zeigen.
Die Fachkräfte unterscheiden bei der zweiten Elterngruppe zwischen weiteren Formen von Armut:
Beispielsweise wird von „Interessenarmut“ (Z. 102) der Eltern sowie von „sozialer“ (Z. 62), „seelischer
und geistiger Armut“ (Z. 70) derselben gesprochen. Diese werde entweder in der Zusammenarbeit der
Familie mit der Kita, z. B. anhand mangelnder Kooperationsbereitschaft und einem davon abgeleiteten
generellen Desinteresse am Kind (Z. 102-105; Z. 117), oder direkt am Kind in Form einer
„Erfahrungsarmut“ (Z. 33) infolge mangelnder Erziehungs- und Sozialkompetenz (Z. 63-67) bzw. der
anregungsarmen familiären Umgebung mit „bildungsferne[r] Erziehung“ (Z. 54) sichtbar. Dabei scheint
der Begriff der Armut für die Fachkräfte fluktuierend genug, um unter ihm auftretende
Sozialisationsprobleme, Handlungsherausforderungen und Konflikte, welche in der Organisation
auftreten, zu subsumieren.
Die Sichtbarkeit von „nicht-kompensierter“ Armut als Anlass für pädagogische Interventionen
Entsprechend der Unterscheidung der zwei Elterngruppen konstruieren die Fachkräfte die bereits im
Privaten kompensierte und für sie daher unsichtbare Armut auf der einen sowie die unkompensierte
und daher sichtbare und für sie bearbeitungsbedürftige Armut auf der anderen Seite.
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ElFo
Elementarpädagogische Forschungsbeiträge, Volume Jahrgang 1 / Heft 2 / 2019
- Title
- ElFo
- Subtitle
- Elementarpädagogische Forschungsbeiträge
- Volume
- Jahrgang 1 / Heft 2 / 2019
- Editor
- Lars Eichen
- Eva Pölzl-Stefanec
- Location
- Graz
- Date
- 2019
- Language
- German
- License
- CC BY-NC 3.0
- Size
- 21.0 x 29.7 cm
- Pages
- 77
- Categories
- Zeitschriften ElFo- Elementarpädagogische Forschungsbeiträge