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ZwischenGhettogeschichteund‚Trauerspiel‘ 55
nichtnurdieTochter, sondernauchzweiderSöhne,HeinrichundJakob,aus
derFamilieausgeschlossenhat: „dasHauswaraberauchdanach,daßmanes
hassenmußte“(DS26).
Zudengrundlegenden, inderGhettogeschichtevertretenenstrukturellen
ElementenzähltObernebendemMotivderarrangiertenHeiratenmitihrenre-
gelmäßigverheerendenAuswirkungenundderVerführungderTochterdurch
einenChristenauchdasder„VerführungdesSohnesaus frommemjüdischen
Hausedurcheine ‚deutsche‘Bildung“,die–wiehierbeiFeldmann–„dieglei-
chermaßentragischenKonsequenzen:dasverpfuschteLebenallerbeteiligten
Juden,mitoderohneNervenzusammenbruchdesSohnes“,148nachsichzieht.
Simon,der jüngsteSohnFlecks, schließt sichengandenStudentenAdri-
ananundwirddafürvonseinemVatervordenanderenGhettobewohnern
bloßgestellt:
FLECK(zuSimon):BistäsoäniederträchtigerHund!Wenndemöchstaufpassenwollen,
wiemanmachtGeschäfte!Aberna!Wennsowasvorkommt,schauterwegodererschaut
inäBuchhinein! […](ziehtuntermSitzSimonseinaufgeschlagenesBuchhervor,hält
esFeuerhin) […]MitsolchemUnsinnfüllt er sichseiKopfan!
HinterderDrastikdieserSchmähungverbirgtsichdieAngstdesVatersvorder
latenten ‚moralischenGefahr‘,die für ihnvondemBildungsverlangenseines
Sohnesausgeht: „Draußenis schodasStudentl,wirdnochdeiSchochet,149die
schlechteGesellschaft!“ (DS31)
Adrianplant, sichdenAnarchisten inder Schweiz,wo sich inder ersten
Hälftedes20. JahrhundertsdasZentrumderBewegungbefand,anzuschließen.
Simon, der seinem engen Freund hatte folgenwollen, bringt es eingedenk
des Schmerzes seinerMutter und seiner eben erst wieder aus der Fremde
zurückgekehrtenSchwester imentscheidendenMomentabernichtübersich,
dafürmit seinerFamiliezubrechen:„IchfühlenichtKraftundMut inmir.“
(DS32)
IndiesemLoyalitätskonflikterweist sichdie,wenngleichunheilvolle,Bin-
dungandieFamilieals stärker, auchwennAdrianSimondieUnfähigkeit, sich
aus ihrenBandenzu lösen, alsEmanzipationsverweigerungvorwirft: „Was?
Darandenkstdu?WillstdueineLarvebleibenalldeinLebenlang?“(DS32)
Simon,alszwischenAusbruchsbestrebenundAngstvordemPreisderLoslö-
sungZerrissener istnicht fähig,mitden„Gefühlenauf[zu]räumen“,wieAdrian
von ihmfordert. IhmfehlenKraftundEntschlossenheit, gegendeneigenen
Vater aufzubegehren, und sokommtSimon, indemStückals vonZweifeln
148 Ebd.:S.
108.
149 Autorisierter jüdischerSchlachter.
http://creativecommons.org/licenses/by/4.0 | CC BY-NC-ND 4.0
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Else Feldmann: Schreiben vom Rand
Journalistin und Schriftstellerin im Wien der Zwischenkriegszeit
- Title
- Else Feldmann: Schreiben vom Rand
- Subtitle
- Journalistin und Schriftstellerin im Wien der Zwischenkriegszeit
- Author
- Elisabth H. Debazi
- Publisher
- Böhlau Verlag
- Location
- Wien
- Date
- 2021
- Language
- German
- License
- CC BY 4.0
- ISBN
- 978-3-205-21213-3
- Size
- 15.8 x 23.4 cm
- Pages
- 306
- Keywords
- L
- Category
- Biographien