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Die Liebe der Erika Ewald
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Die Wanderung Dunkle Gerüchte waren durch das Land gezogen und seltsame Worte, als sollte die Zeit sich erfüllt haben und der Messias nahe sein. Immer häufiger kamen Männer von Jerusalem zu den kleineren Orten Judäas und erzählten von Zeichen und Wundern, die sich ereignet hatten. Und wenn sie zu wenigen beisammen waren, dann senkten sie ihre Stimmen geheimnisschwer, um von dem seltsamen Manne zu künden, den sie Meister nannten. Allerorts hörte man sie dann gerne und glaubte ihnen mit banger Zuversicht, denn die Sehnsucht nach dem Erlöser war drängend und reif geworden im Volke, wie eine Blüte, die ihren Kelch zersprengt. Und wenn man der Verheißungen in den heiligen Büchern gedachte, so nannte man seinen Namen, und ein hoffnungsfrohes Leuchten flammte in den Blicken. Damals lebte auch ein Jüngling im Lande, dessen Herz gläubig war und erwartungsvoll. Die armen Pilger, die des Weges von Jerusalem kamen, lud er in sein Haus, daß sie ihm vom Heilande berichteten, und wenn sie von ihm sprachen und von seinen wunderseligen Taten und Worten, da fühlte er einen dumpfen Schmerz im Herzen, denn sein Verlangen wurde jäh und ungestüm, das Angesicht des Erlösers zu schauen. Tag und Nacht träumte er von ihm, und seine rastlose Sehnsucht formte tausend Bilder seines Antlitzes voll Güte und Milde, er aber fühlte, daß sie doch nur stammelnde Abbilder einer großen Vollendung seien. Und ihm war, als müßte alle Unrast und Schmerzlichkeit seiner jungen Seele schwinden, dürfte er nur einmal den leuchtenden Glanz tragen, der von dem Herrn ausging. Noch aber wagte er es nicht, Heimat und Arbeit zu verlassen, die ihn ernährten, und dorthin zu gehen, wohin ihn seine Sehnsucht wies. Einmal aber erwachte er plötzlich in tiefer Nacht aus einem Traum. Er vermochte sich seiner nicht mehr zu besinnen, nicht einmal, ob er ihm Glück gegeben oder einen Schmerz; er fühlte nur so, als ob ihn jemand von ferne gerufen hätte. Und da wußte er, daß der Heiland ihn zu sich entboten. Im schwersten Dunkel erwuchs ihm noch der jähe Entschluß, daß er nun nicht mehr zaudern dürfe, seines Herrn Angesicht zu schauen, und der sehnsüchtige Drang ward so siegreich und mächtig in ihm, daß er sich sogleich ankleidete, einen starken Wanderstab nahm und, ohne jemandem ein Wort zu sagen, aus dem schlummernden Hause ging, den Weg gegen Jerusalem zu. Helles Mondlicht lag auf der Straße, und der Schatten seiner hastenden Gestalt eilte vor ihm her. Denn sein Schritt war beschleunigt und beinahe ängstlich; es schien, als wollte er das monatelange Versäumnis in dieser einen Nacht wett machen. In ihm bangte ein Gedanke, den er sich kaum zu sagen 56
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Die Liebe der Erika Ewald
Title
Die Liebe der Erika Ewald
Author
Stefan Zweig
Date
1904
Language
German
License
PD
Size
21.0 x 29.7 cm
Pages
114
Keywords
Literatur, Liebe, Erzählung, Schriftsteller
Categories
Weiteres Belletristik

Table of contents

  1. Die Liebe der Erika Ewald 5
  2. Der Stern über dem Walde 46
  3. Die Wanderung 56
  4. Die Wunder des Lebens 61
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