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Die Wanderung
Dunkle Gerüchte waren durch das Land gezogen und seltsame Worte, als
sollte die Zeit sich erfüllt haben und der Messias nahe sein. Immer häufiger
kamen Männer von Jerusalem zu den kleineren Orten Judäas und erzählten
von Zeichen und Wundern, die sich ereignet hatten. Und wenn sie zu wenigen
beisammen waren, dann senkten sie ihre Stimmen geheimnisschwer, um von
dem seltsamen Manne zu künden, den sie Meister nannten. Allerorts hörte
man sie dann gerne und glaubte ihnen mit banger Zuversicht, denn die
Sehnsucht nach dem Erlöser war drängend und reif geworden im Volke, wie
eine Blüte, die ihren Kelch zersprengt. Und wenn man der Verheißungen in
den heiligen Büchern gedachte, so nannte man seinen Namen, und ein
hoffnungsfrohes Leuchten flammte in den Blicken.
Damals lebte auch ein Jüngling im Lande, dessen Herz gläubig war und
erwartungsvoll. Die armen Pilger, die des Weges von Jerusalem kamen, lud er
in sein Haus, daß sie ihm vom Heilande berichteten, und wenn sie von ihm
sprachen und von seinen wunderseligen Taten und Worten, da fühlte er einen
dumpfen Schmerz im Herzen, denn sein Verlangen wurde jäh und ungestüm,
das Angesicht des Erlösers zu schauen. Tag und Nacht träumte er von ihm,
und seine rastlose Sehnsucht formte tausend Bilder seines Antlitzes voll Güte
und Milde, er aber fühlte, daß sie doch nur stammelnde Abbilder einer großen
Vollendung seien. Und ihm war, als müßte alle Unrast und Schmerzlichkeit
seiner jungen Seele schwinden, dürfte er nur einmal den leuchtenden Glanz
tragen, der von dem Herrn ausging. Noch aber wagte er es nicht, Heimat und
Arbeit zu verlassen, die ihn ernährten, und dorthin zu gehen, wohin ihn seine
Sehnsucht wies.
Einmal aber erwachte er plötzlich in tiefer Nacht aus einem Traum. Er
vermochte sich seiner nicht mehr zu besinnen, nicht einmal, ob er ihm Glück
gegeben oder einen Schmerz; er fühlte nur so, als ob ihn jemand von ferne
gerufen hätte. Und da wußte er, daß der Heiland ihn zu sich entboten. Im
schwersten Dunkel erwuchs ihm noch der jähe Entschluß, daß er nun nicht
mehr zaudern dürfe, seines Herrn Angesicht zu schauen, und der sehnsüchtige
Drang ward so siegreich und mächtig in ihm, daß er sich sogleich ankleidete,
einen starken Wanderstab nahm und, ohne jemandem ein Wort zu sagen, aus
dem schlummernden Hause ging, den Weg gegen Jerusalem zu.
Helles Mondlicht lag auf der Straße, und der Schatten seiner hastenden
Gestalt eilte vor ihm her. Denn sein Schritt war beschleunigt und beinahe
ängstlich; es schien, als wollte er das monatelange Versäumnis in dieser einen
Nacht wett machen. In ihm bangte ein Gedanke, den er sich kaum zu sagen
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Die Liebe der Erika Ewald
- Title
- Die Liebe der Erika Ewald
- Author
- Stefan Zweig
- Date
- 1904
- Language
- German
- License
- PD
- Size
- 21.0 x 29.7 cm
- Pages
- 114
- Keywords
- Literatur, Liebe, Erzählung, Schriftsteller
- Categories
- Weiteres Belletristik