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30 Ich erinnere mich an den auch bei uns eiskalten Winter 1942/43. Wir hatten
zu wenig Kohle, um in der gesamten Wohnung einen Raum auf über 18° C zu
erwärmen, die Klassenzimmer waren sehr kühl und überall kroch die Kälte in
die Glieder. Dennoch waren wir neugierig und an einem Sonntag fuhr ich mit
meinem Vater mit der Straßenbahn zur Wiener Reichsbrücke um den Eisstoß
auf der Donau zu sehen. Die Donau war gänzlich zugefroren und die dezimeter-
dicken Eisschollen schwammen grob übereinandergestapelt über das Wasser.
Es war ein imposantes (und kostenloses) Naturschauspiel.
In diesem Winter erreichten auch die Winterhilfssammlungen (WHW) einen Hö-
hepunkt. Gesammelt wurde, meist von Schulkindern, nicht nur warme Beklei-
dung für die Soldaten an der Front, es wurden auch Geldspenden in Empfang
genommen. Die Sammelbüchsen mit dem Schlitz für Münzen und dem Loch
für Banknoten sind manchmal heute noch zu sehen und auch in Verwendung.
Anfang Februar 1943 sah ich auf meinem Schulweg an einem Zeitungsstand
in der Wiedner Hauptstraße in großen Lettern auf dem Titelblatt die Meldung:
„STALINGRAD GEFALLEN“. Ich begriff natürlich nicht die tiefgreifende Bedeu-
tung dieser Meldung, nur meine Eltern sagten mir vorsichtig, dass dies eine
schwere Niederlage der Deutschen Wehrmacht sei und eine wichtige Ent-
scheidung für den Krieg.
Ich wusste damals weder um das Ausmaß noch um die Auswirkungen dieser
Katastrophe, doch später erfuhr ich, dass von den rund 230.000 deutschen
Soldaten der 6. Arme unter der Führung von General Friedrich Paulus rund
90.000 in Gefangenschaft geraten waren, von denen dann nur rund 6.000
heimkommen sollten – das sind rund 3% der eingesetzten Soldaten.2
Die allgemeinen Rückzugsbewegungen der Deutschen Wehrmacht, die nach
der Niederlage von Stalingrad allmählich auch der Zivilbevölkerung bewusst
wurden, bezeichnete die Heeresführung stets als Frontbegradigung und man
stellte sie nie auf einer Karte dar.
Später erfuhr ich von ehemaligen Kriegsteilnehmern den für solche Aktionen
zutreffenden Spruch: „Vorwärts Kameraden, es geht zurück!“
Eine weitere Nachricht beherrschte für Tage die Zeitungsmeldungen: Der
Kampf um Monte Cassino im Mai 1944. Ich kann mich daran nur bruchstück-
haft erinnern, doch wurde dieser Kampf der Deutschen Wehrmacht um eines
der letzten Bollwerke gegen die nachrückenden Engländer detailstark darge-
stellt, untermauert von Fotos des völlig ausgebrannten Klosterkomplexes.
Die großen Wendepunkte
Einschub
2 Kursiv hervorgehobene Textpassagen sollen im Folgenden anzeigen, dass der Autor zum damali-
gen Zeitpunkt noch nichts von den beschriebenen Sachverhalten und Vorkommnissen wusste.
Es rissen alle Stricke – doch wir überlebten
Episoden aus der Kriegs und Nachkriegszeit in Wien in einer nicht streng chronologischen Abfolge
- Title
- Es rissen alle Stricke – doch wir überlebten
- Subtitle
- Episoden aus der Kriegs und Nachkriegszeit in Wien in einer nicht streng chronologischen Abfolge
- Author
- Othmar Nestroy
- Editor
- Technischen Universität Graz
- Publisher
- Verlag der Technischen Universität Graz
- Location
- Graz
- Date
- 2020
- Language
- German
- License
- CC BY 4.0
- ISBN
- 978-3-85125-741-0
- Size
- 20.0 x 25.0 cm
- Pages
- 120
- Categories
- Geschichte Historische Aufzeichnungen
Table of contents
- Einstimmung 8
- Einleitung 11
- Politische Propaganda 13
- Spiel und Sport 19
- Der Krieg wird spürbar 23
- Die großen Wendepunkte: Der Fall von Stalingrad und von Monte Cassino, die Landung in der Normandie und das Hitler-Attentat 29
- Privater und öffentlicher Verkehr 32
- Die ersten Bomben fallen auf die Innenstadt 41
- Der totale Krieg beginnt 47
- Die Front rückt näher 57
- Die Soldaten der Roten Armee erobern Wien 61
- Das Leben normalisiert sich und der Wiederaufbau beginnt 75
- Das lange Warten auf den Staatsvertrag 89
- Nachklang 93
- Persönliche Schicksale am Rande des Krieges 97
- Ausklang 115