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Die Lebensmittelkarten wurden immer kleiner und weniger, die Marken signa-
lisierten nicht mehr eine gewisse Menge eines bestimmten Artikels, sondern
es standen nur mehr Nummern darauf, die aufgerufen wurden und für die man
dann ein Lebensmittel kaufen konnte. Anstellen vor den Geschäften war die
Regel, viele waren „bis Kriegsende geschlossen“, da die Besitzer an der Front
waren oder einfach keine Ware mehr vorhanden war. Wir hatten das Glück,
in der Nähe vom Naschmarkt zu wohnen, wo man noch lange nach Schlech-
terwerden der allgemeinen Versorgungslage frisches Obst und Gemüse di-
rekt von den meist kroatischen Bauern aus dem Burgenland mit „einer guten
Waag“ kaufen konnte.
Für Raucher begannen schlechte Zeiten, denn der Mangel an Tabak machte
eine Zigarette zum Objekt der Begierde. Als Nichtraucher kann ich dies kaum
nachfühlen, doch Beobachtungen daheim und auf den Straßen skizzieren die-
se „Notsituation“. Mein Vater war eine mittelstarker Raucher und bevorzug-
te selbst angefertigte Zigaretten, sogenannte „Selbstgewuzelte“, zu deren
Anfertigung man Tabak in ein schmales und rechteckiges Spezialpapier (am
Ende des Krieges und lange danach war dies oft nur Zeitungspapier) gab, das
dann eingerollt und mit Klebstoff und Speichel fixiert wurde. Bei einer ande-
ren Methode wurde eine ausgewogenen Menge Tabak in ein kleinlumiges und
aufklappbares Metallröhrchen gebracht, vorverfestigt und mittels eines klei-
nen Holzkolbens in eine Papierhülse mit Filter geschoben. Es war dies oft eine
Zeremonie und nicht selten war der Besitzer auf seine gleichmäßige Produkti-
onsserie etwas stolz.
Der Mangel an Rauchwaren eröffnete noch eine andere Facette. In Wien gehör-
te der „Tschickarretierer“, das war ein Mann, der mit der Spitze eines Stockes
die Reste von Zigaretten, sogenannten Tschiks, auf dem Trottoir aufspieß-
te, daheim sorgsam den Tabak herauslöste und sich daraus neue Zigaretten
formte, als legendäre Person zum Stadtbild.
Der Witz dazu konnte und durfte in Wien nicht fehlen: Bei einer Kasernenins-
pektion durch den General erspäht dieser im Kasernenhof auf dem Boden ei-
nen Tschick. „Wem gehört dieser Tschick?“, herrscht er den Unteroffizier vom
Dienst an. Dieser erwidert spontan: „Ihnen, Herr General, denn sie haben ihn
zuerst gesehen!“
Dieser Mangel an Zigaretten war während des Krieges an der Front, in der
Kriegsgefangenschaft und lange nach Kriegsende ein für Raucher beherr- Einschub
Es rissen alle Stricke – doch wir überlebten
Episoden aus der Kriegs und Nachkriegszeit in Wien in einer nicht streng chronologischen Abfolge
- Title
- Es rissen alle Stricke – doch wir überlebten
- Subtitle
- Episoden aus der Kriegs und Nachkriegszeit in Wien in einer nicht streng chronologischen Abfolge
- Author
- Othmar Nestroy
- Editor
- Technischen Universität Graz
- Publisher
- Verlag der Technischen Universität Graz
- Location
- Graz
- Date
- 2020
- Language
- German
- License
- CC BY 4.0
- ISBN
- 978-3-85125-741-0
- Size
- 20.0 x 25.0 cm
- Pages
- 120
- Categories
- Geschichte Historische Aufzeichnungen
Table of contents
- Einstimmung 8
- Einleitung 11
- Politische Propaganda 13
- Spiel und Sport 19
- Der Krieg wird spürbar 23
- Die großen Wendepunkte: Der Fall von Stalingrad und von Monte Cassino, die Landung in der Normandie und das Hitler-Attentat 29
- Privater und öffentlicher Verkehr 32
- Die ersten Bomben fallen auf die Innenstadt 41
- Der totale Krieg beginnt 47
- Die Front rückt näher 57
- Die Soldaten der Roten Armee erobern Wien 61
- Das Leben normalisiert sich und der Wiederaufbau beginnt 75
- Das lange Warten auf den Staatsvertrag 89
- Nachklang 93
- Persönliche Schicksale am Rande des Krieges 97
- Ausklang 115