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58 Wir erfuhren dies nicht durch die Zeitung oder den Drahtfunk – aus Angst vor
einer feindlichen Peilung war das Radio nur mehr über die Telefonleitung zu
empfangen –, sondern wir spürten es daran, dass die Bombenangriffe der
Amerikaner abebbten und schließlich aufhörten: Sie wollten ja nicht ihren Ver-
bündeten treffen. Wir haben erleichtert aufgeatmet, denn die Flugzeuge und
Bomben der Roten Armee waren bedeutend ungefährlicher als jene der Ame-
rikaner. Wir bezeichneten die Flugzeuge spöttisch als bessere Kaffeemühlen,
denn die von den langsam fliegenden Flugzeugen abgeworfenen Bomben rich-
teten auf dem harten Granitpflaster der Straßen Wiens kaum Schaden an – es
krachte nur fürchterlich und Pulverdampf stieg auf, aber als sich dieser verzo-
gen hatte war nur eine kleine Delle im harten Pflaster auszunehmen.
An den Lärm der Flak der Stiftskaserne gewöhnt, erkannten wir bald, dass das
Ziel der Flakgranaten nicht mehr die amerikanischen Bomber waren, sondern
die Flak in den Bodenkampf eingriff: Die Front rückte immer näher und verlief
bald in der unmittelbaren Nähe Wiens.
In dieser Zeit der zunehmenden allgemeinen Nervosität und der heranrücken-
den Front wurden auch die ersten Lebensmittelläden und Magazine gewalt-
sam geöffnet und die Zivilbevölkerung begann, verschiedenste Dinge zu „or-
ganisieren“ – hauptsächlich Lebensmittel. Mein Bruder und noch zwei Gleich-
altrige vom Haus machten sich also auf den Weg und kamen bald mit „Beute“
heim: einem bis an den Rand mit Bouteillen von Bordeau Blanc Sucre gefüllten
Wäschekorb. Ich habe das Bild noch vor mir und kann die Zahl der Flaschen nur
grob schätzen, doch es waren mindestens 30 Stück – der Korb war entspre-
chend schwer, aber man nahm diese flüssige Last gerne auf sich. Sie wurden
im Keller „sichergestellt“, waren dort aber nur relativ sicher, denn diese „Liefe-
rung“ entging nicht den aufmerksamen Augen des Hausmeisters, der für sich
wiederum einen Teil „organisierte“, denn Trinkwasser war ja nicht ungefährlich
und vor allem knapp. Ich vermute, dass er statt Wasser seinen Flüssigkeits-
bedarf für die kommenden Wochen mit dem köstlichen Wein aus Feindesland
ohne Bedenken und Schuldgefühle deckte.
In den Frontberichten in den Zeitungen waren immer nur Orte genannt, um die
gekämpft wurde, und die topographischen Bezeichnungen wurden kartenmä-
ßig dargestellt, doch niemals der Frontverlauf eingezeichnet. So konnte man
sich kein genaues Bild über die Lage der Front machen und darüber hinaus
wurden aus propagandistischen Gründen die Meldungen immer zeitverzögert
verlautbart. Ein makaberer Witz machte in dieser zermürbenden Zeit die Run-
de. Auf die Frage, wann der Krieg zu Ende sei, lautete die Antwort: „Am Ersten,
denn wir kämpfen bis zum Letzten.“
Die Front rückt näher
Es rissen alle Stricke – doch wir überlebten
Episoden aus der Kriegs und Nachkriegszeit in Wien in einer nicht streng chronologischen Abfolge
- Title
- Es rissen alle Stricke – doch wir überlebten
- Subtitle
- Episoden aus der Kriegs und Nachkriegszeit in Wien in einer nicht streng chronologischen Abfolge
- Author
- Othmar Nestroy
- Editor
- Technischen Universität Graz
- Publisher
- Verlag der Technischen Universität Graz
- Location
- Graz
- Date
- 2020
- Language
- German
- License
- CC BY 4.0
- ISBN
- 978-3-85125-741-0
- Size
- 20.0 x 25.0 cm
- Pages
- 120
- Categories
- Geschichte Historische Aufzeichnungen
Table of contents
- Einstimmung 8
- Einleitung 11
- Politische Propaganda 13
- Spiel und Sport 19
- Der Krieg wird spürbar 23
- Die großen Wendepunkte: Der Fall von Stalingrad und von Monte Cassino, die Landung in der Normandie und das Hitler-Attentat 29
- Privater und öffentlicher Verkehr 32
- Die ersten Bomben fallen auf die Innenstadt 41
- Der totale Krieg beginnt 47
- Die Front rückt näher 57
- Die Soldaten der Roten Armee erobern Wien 61
- Das Leben normalisiert sich und der Wiederaufbau beginnt 75
- Das lange Warten auf den Staatsvertrag 89
- Nachklang 93
- Persönliche Schicksale am Rande des Krieges 97
- Ausklang 115