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66 den Betten nun die toten Frauen und wir mussten handeln. Meine Mutter und
andere Frauen erklären sich bereit, die beiden Leichen jeweils in einen Teppich
einzunähen, damit man sie dann vom dritten Stock heruntertragen und beer-
digen konnte.
Meine Vater und andere Männer hatten in der Zwischenzeit in einer kleinen
Grünfläche in der Paulanergasse ein Grab geschaufelt, in das die beiden Lei-
chen gebettet werden konnten. Der Kaplan der Paulanerkirche wurde gebe-
ten, die Einsegnung vorzunehmen. So fanden hier die beiden Frauen ihre vor-
läufige Ruhestätte, denn später wurden sie dann auf dem Wiener Zentralfried-
hof zum zweiten Mal beerdigt. Wir waren alle sehr betroffen und meine Mutter
sagte mir später, dass dies die schwerste Aufgabe ihres Lebens gewesen war.
Da die Soldaten auch oftmals betrunken waren, standen Übergriffe auf der
Tagesordnung. Junge Mädchen wie Frauen waren vor diesen nicht sicher und
hielten sich meist versteckt. Da von der Besatzungsmacht alles durchsucht
und aufgebrochen wurde, war man auch in den Luftschutzkellern nicht mehr
sicher. Die Keller waren nämlich durch Durchbrüche miteinander verbunden,
sodass man unterirdisch und somit hindernisfrei von Haus zu Haus gelangen
konnte. Dies war eine Gefahrenquelle, die wir bald erkannten. Daher übersie-
delten wir vom Luftschutzkeller in zwei Wohnungen: Die Männer, so auch mein
Vater, in die Hausmeisterwohnung im Erdgeschoß, Frauen und Kinder, so auch
mein Bruder und ich, in unsere Wohnung, da diese im dritten Stock lag und
somit die höchstgelegene war.
Diese Konfiguration hat sich als sehr vorteilhaft erwiesen und wurde über
mehrere Wochen praktiziert. Wenn die Soldaten kamen, dann wurden sie
gleich im Parterre von den Männern empfangen, auch von unserem Hausmeis-
ter, der dank seiner tschechischen Wurzeln etwas Russisch beherrschte und
die meist betrunkenen Soldaten bestimmt nicht mit Kosenamen bedachte.
Seine dröhnende Stimme fand im hohen und stockfinsteren Stiegenhaus eine
furchterregende Verstärkung. Wir erlebten diese „Besuche“ fast jede Nacht
und hörten den Lärm, doch wähnten wir uns im höchsten Stockwerk in relati-
ver Sicherheit.
So kamen täglich bei Einbruch der Dunkelheit – es gab kein elektrisches
Licht oder sonstige Beleuchtung – die Frauen und Kinder vom Haus in un-
sere Wohnung zum Schlafen. In jedem Zimmer waren Betten aufgestellt,
für zwei Personen ein Bett. Die Stimmung war gelöst-optimistisch, denn wir
hatten ja das Ärgste, die Bomben und die Front, überlebt und es konnte nur
mehr besser werden.
Es rissen alle Stricke – doch wir überlebten
Episoden aus der Kriegs und Nachkriegszeit in Wien in einer nicht streng chronologischen Abfolge
- Title
- Es rissen alle Stricke – doch wir überlebten
- Subtitle
- Episoden aus der Kriegs und Nachkriegszeit in Wien in einer nicht streng chronologischen Abfolge
- Author
- Othmar Nestroy
- Editor
- Technischen Universität Graz
- Publisher
- Verlag der Technischen Universität Graz
- Location
- Graz
- Date
- 2020
- Language
- German
- License
- CC BY 4.0
- ISBN
- 978-3-85125-741-0
- Size
- 20.0 x 25.0 cm
- Pages
- 120
- Categories
- Geschichte Historische Aufzeichnungen
Table of contents
- Einstimmung 8
- Einleitung 11
- Politische Propaganda 13
- Spiel und Sport 19
- Der Krieg wird spürbar 23
- Die großen Wendepunkte: Der Fall von Stalingrad und von Monte Cassino, die Landung in der Normandie und das Hitler-Attentat 29
- Privater und öffentlicher Verkehr 32
- Die ersten Bomben fallen auf die Innenstadt 41
- Der totale Krieg beginnt 47
- Die Front rückt näher 57
- Die Soldaten der Roten Armee erobern Wien 61
- Das Leben normalisiert sich und der Wiederaufbau beginnt 75
- Das lange Warten auf den Staatsvertrag 89
- Nachklang 93
- Persönliche Schicksale am Rande des Krieges 97
- Ausklang 115