Page - 68 - in Es rissen alle Stricke – doch wir überlebten - Episoden aus der Kriegs und Nachkriegszeit in Wien in einer nicht streng chronologischen Abfolge
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68 weiß nur, dass viele Lebensmittel, die man seit Jahren nicht mehr in den Re-
galen gesehen hatte, plötzlich da waren. Auf der anderen Seite verkauften
viele Einheimische ihren Hausrat, um etwas zu essen zu bekommen. Es soll
sogar so weit gegangen sein, dass ein Bösendorfer-Flügel für Lebensmittel
eingetauscht wurde. Hauptsächlich wurden Mehl, Zucker, Butter und Schmalz
zu stark überhöhten, aber doch „geregelten“ Preisen gehandelt – Feilschen
stand auf der Tagesordnung und entwickelte sich zum Volkssport, denn jeder
gute Wiener wusste um den „Tageskurs“, der „auf dem Schleich“ an diesem Tag
aktuell war. Auch hier machte ein Witz die Runde: Trifft ein Wiener einen guten
Bekannten auf der Straße mit einem Kindersarg auf der Schulter. Betroffen
fragt er ihn, wer denn gestorben sei. Dieser antwortet nüchtern: „Gestorben
ist gottlob niemand, nur war er heute auf dem Schleich zu bekommen.“
Was genau wir gegessen haben, kann ich nicht mehr sagen. Es waren meist
Erbsen und/oder Bohnen mit Würmern, die wir dann irgendwie aufwärmten –
meist auf dem Hausfreund – und einnahmen, weiße Bohnen in amerikanischen
Dosen mit einem Hering in der Mitte, Maisgries, den meine Mutter aufkochte
und den wir dann heißhungrig aßen. In Dosen bekamen wir Kokosbutter – eine
Delikatesse. Was an Fleisch angeboten wurde, kann ich auch nicht sagen,
doch vermute ich sehr, dass wir neben Pferdefleisch, das wir an der Farbe
und der Langfasrigkeit erkannten und mit dem wir widerwillig zum ersten Mal
Bekanntschaft machten, auch das Fleisch von Hunden, das etwas süßlich
schmeckte, und von Katzen – als Hasenfleisch deklariert – gegessen haben.
Wir waren eben hungrig und in der Großstadt Wien war die Lebensmittel-
versorgung schlechter als in anderen Städten oder auf dem Lande. Nach dem
Essen wurde der Teller mit Brot (falls vorhanden) nicht nur blank geputzt,
sondern auch abgeschleckt.
Eine Hausgehilfin brachte zu dieser Zeit meiner Mutter aus dem Burgenland
zwei tote Vögel, in der Größe von jungen Raben. Wir waren über die zu erwar-
tende Köstlichkeit hocherfreut und meine Mutter begann mit der Vorbereitung
dieses Geflügels. Doch es wurde nicht und nicht weich. Stundenlang stand es
auf dem Herd, doch es blieb furchtbar zäh. Als ultima ratio kam es dann in die
Fleischmaschine und sollte in Form von Faschiertem eine neue Konfiguration
finden. Doch auch in dieser Form war es ein hartes Stück – aber wenigstens
waren wir etwas länger nicht so hungrig.
In der Nebenwohnung wohnte ein junger Mann, der studierte. Seine Eltern wa-
ren Bauern in Zwölfaxing, unweit außerhalb der Stadtgrenze von Groß-Wien.
Es rissen alle Stricke – doch wir überlebten
Episoden aus der Kriegs und Nachkriegszeit in Wien in einer nicht streng chronologischen Abfolge
- Title
- Es rissen alle Stricke – doch wir überlebten
- Subtitle
- Episoden aus der Kriegs und Nachkriegszeit in Wien in einer nicht streng chronologischen Abfolge
- Author
- Othmar Nestroy
- Editor
- Technischen Universität Graz
- Publisher
- Verlag der Technischen Universität Graz
- Location
- Graz
- Date
- 2020
- Language
- German
- License
- CC BY 4.0
- ISBN
- 978-3-85125-741-0
- Size
- 20.0 x 25.0 cm
- Pages
- 120
- Categories
- Geschichte Historische Aufzeichnungen
Table of contents
- Einstimmung 8
- Einleitung 11
- Politische Propaganda 13
- Spiel und Sport 19
- Der Krieg wird spürbar 23
- Die großen Wendepunkte: Der Fall von Stalingrad und von Monte Cassino, die Landung in der Normandie und das Hitler-Attentat 29
- Privater und öffentlicher Verkehr 32
- Die ersten Bomben fallen auf die Innenstadt 41
- Der totale Krieg beginnt 47
- Die Front rückt näher 57
- Die Soldaten der Roten Armee erobern Wien 61
- Das Leben normalisiert sich und der Wiederaufbau beginnt 75
- Das lange Warten auf den Staatsvertrag 89
- Nachklang 93
- Persönliche Schicksale am Rande des Krieges 97
- Ausklang 115