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72 kaufen, einen Fiat. So musste er alle Visiten zu Fuß machen, doch die Zahl der
Akutkranken war relativ überschaubar. Infolge der kriegsbedingten jahrelan-
gen Diät waren Personen, die unter Magen, Leber- und Gallenerkrankungen
litten, fast „pumperlgesund“ und erst bei der besseren Versorgung mit Nah-
rungsmitteln oder zu den Feiertagen, mit deftigen und fettreichen Speisen,
traten die alten Krankheiten wieder auf.
Eine Tages verbreitete sich das Gerücht, dass im Schlachthof von St. Marx
lebende Rinder zu bekommen wären. Mein Vater, andere Männer und ich mach-
ten uns, mit Stangen zum Heimtreiben ausgestattet, auf den Weg in Richtung
St. Marx. Nach gut einer Stunde waren wir am Ziel unserer Wünsche, doch was
wir sahen, entsprach keineswegs unseren hochgesteckten Vorstellungen: Zu
Hunderten lagen die verendeten Tiere auf den Böden des Schlachthauses, mit
gespreizten Beinen, aufgebläht, mit offenem Flotzmaul, aus dem die Zunge
hing. Koje für Koje bot denselben Anblick, untermischt mit starkem Verwe-
sungsgeruch. Kein Funken Leben war hier zu sehen. Unverrichteter Dinge ver-
ließen wir diese Stätte des Grauens und kamen mit leeren Händen heim.
Wenige Tage, nachdem die Front über unser Wohnviertel gezogen war, mach-
ten mein Vater und ich uns auf den Weg, um nachzusehen, ob mein Onkel und
meine Tante, die etwa eine halbe Gehstunde entfernt in der Spiegelgasse
gewohnt hatten, noch am Leben waren. Wir gingen durch die Kärntnerstra-
ße von der Oper in Richtung Stephanskirche – die Oper wie der Stephansdom
brannten noch. Die Kärntnerstraße war voll mit Besatzungssoldaten, die sich
dort mit ihren Pferden und Panjewagerln häuslich niedergelassen hatten.
Die Halfter der Pferde waren um die hölzernen Steher der Geschäftsportale
geschwungen und die Lage war eigentlich ruhig. Einheimische wie auch die
Soldaten schauten sich zwar misstrauisch-neugierig an, doch es gab bei Tag
kaum Übergriffe. Zwischen den Wägen war Stroh aufgeschüttet, vermutlich
zugleich Futter für die Tiere und Schlafstatt für die Besatzer. Im Hintergrund
war noch das Mündungsfeuer der deutschen Artillerie vom nördlichen Donau-
ufer deutlich zu hören, denn der Krieg und auch der Kampf um Wien waren in
diesen Apriltagen noch nicht zu Ende.
Mein Onkel und meine Tante haben die Front gut ohne körperlichen und
materiellen Schaden überlebt, allein das Vis-à-vis-Haus brannte seit Tagen
lichterloh und niemand konnte das Feuer eindämmen; nur die Hauptmauern
blieben stehen.
Es rissen alle Stricke – doch wir überlebten
Episoden aus der Kriegs und Nachkriegszeit in Wien in einer nicht streng chronologischen Abfolge
- Title
- Es rissen alle Stricke – doch wir überlebten
- Subtitle
- Episoden aus der Kriegs und Nachkriegszeit in Wien in einer nicht streng chronologischen Abfolge
- Author
- Othmar Nestroy
- Editor
- Technischen Universität Graz
- Publisher
- Verlag der Technischen Universität Graz
- Location
- Graz
- Date
- 2020
- Language
- German
- License
- CC BY 4.0
- ISBN
- 978-3-85125-741-0
- Size
- 20.0 x 25.0 cm
- Pages
- 120
- Categories
- Geschichte Historische Aufzeichnungen
Table of contents
- Einstimmung 8
- Einleitung 11
- Politische Propaganda 13
- Spiel und Sport 19
- Der Krieg wird spürbar 23
- Die großen Wendepunkte: Der Fall von Stalingrad und von Monte Cassino, die Landung in der Normandie und das Hitler-Attentat 29
- Privater und öffentlicher Verkehr 32
- Die ersten Bomben fallen auf die Innenstadt 41
- Der totale Krieg beginnt 47
- Die Front rückt näher 57
- Die Soldaten der Roten Armee erobern Wien 61
- Das Leben normalisiert sich und der Wiederaufbau beginnt 75
- Das lange Warten auf den Staatsvertrag 89
- Nachklang 93
- Persönliche Schicksale am Rande des Krieges 97
- Ausklang 115