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lachte nur über das ganze Gesicht und meinte in recht gutem Deutsch: „Nix
Theater, Zirkus.“ Ein befreiendes Lachen erschütterte das Coupé.
Nur die achte Klasse absolvierte ich im Stammgebäude, in der Kundmann-
gasse. Das Haus war einigermaßen adaptiert, doch zur Heizung dienten noch
Kohlenöfen. So war es in den ersten Stunden im Winter noch „etwas frisch“ in
der Klasse, doch als wir die Lage des Kohlenbunkers ausspioniert und einen
Schlüssel wie auch Kohlen „organisiert“ hatten, war es möglich, die Raumtem-
peratur auf „heiße“ 18° C anzuheben. Viele Professoren wunderten sich darü-
ber und spendeten Lob, dass es morgens in unserer Klasse relativ warm war.
Jedenfalls saßen wir morgens vor Beginn des Unterrichts um den Ofen herum,
um die Übersetzungen in Latein und Griechisch nochmals abzustimmen.
Wichtig war die Schülerausspeisung, die nicht hoch genug eingeschätzt wer-
den kann; sie war in der schweren Zeit des Hungerns eine unersetzbare Hilfe.
Wir alle hatten den sogenannten 3er-Befund, das hieß, wir waren mehr oder
minder unterernährt. Nur einer war etwas rundlicher, hatte einen 2er-Befund
und wurde spöttisch als „der Blade“ bezeichnet. Für diese Ausspeisung muss-
ten wir für einen Betrag von einem Schilling pro Woche Essmarken kaufen und
bekamen dafür jeden Tag in der großen Pause nach langem Anstellen eine
warme Speise: An Kakao, Milchreis und Gemüseeintopf mit einem Weckerl
kann ich mich noch gut erinnern.
Immer wieder wurden wir über die Medien in diesen Jahren von den erfolglo-
sen Verhandlungen über den Staatsvertrag informiert – und vertröstet. Eine
diesbezügliche Grabinschrift darf an dieser Stelle zitiert werden: „Ruhe bis
zum Jüngsten Tag, ruhe bis zum Staatsvertrag“. Zwar war die Besatzung nicht
mehr so drückend wie in den ersten Jahren, doch Übergriffe standen auf der
Tagesordnung und bei Dunkelheit mied man die Straßen in den von den Solda-
ten der Roten Armee besetzen Zonen.
Entführungen auf offener Straße waren keine Seltenheit. Großes Aufsehen er-
regte die Entführung von Frau Dr. Margarethe Ottilinger im Jahre 1948 bei der
Demarkationslinie an der Ennsbrücke, sowie jene vom Polizeivizepräsidenten
in Wien, Anton Marek, auf der Wiener Ringstraße, mit sofortiger Verurteilung
und Deportation des Verdächtigen in ein Straflager.
Wien war in vier Sektoren geteilt. Ich wohnte im russischen Sektor, doch war
Es rissen alle Stricke – doch wir überlebten
Episoden aus der Kriegs und Nachkriegszeit in Wien in einer nicht streng chronologischen Abfolge
- Title
- Es rissen alle Stricke – doch wir überlebten
- Subtitle
- Episoden aus der Kriegs und Nachkriegszeit in Wien in einer nicht streng chronologischen Abfolge
- Author
- Othmar Nestroy
- Editor
- Technischen Universität Graz
- Publisher
- Verlag der Technischen Universität Graz
- Location
- Graz
- Date
- 2020
- Language
- German
- License
- CC BY 4.0
- ISBN
- 978-3-85125-741-0
- Size
- 20.0 x 25.0 cm
- Pages
- 120
- Categories
- Geschichte Historische Aufzeichnungen
Table of contents
- Einstimmung 8
- Einleitung 11
- Politische Propaganda 13
- Spiel und Sport 19
- Der Krieg wird spürbar 23
- Die großen Wendepunkte: Der Fall von Stalingrad und von Monte Cassino, die Landung in der Normandie und das Hitler-Attentat 29
- Privater und öffentlicher Verkehr 32
- Die ersten Bomben fallen auf die Innenstadt 41
- Der totale Krieg beginnt 47
- Die Front rückt näher 57
- Die Soldaten der Roten Armee erobern Wien 61
- Das Leben normalisiert sich und der Wiederaufbau beginnt 75
- Das lange Warten auf den Staatsvertrag 89
- Nachklang 93
- Persönliche Schicksale am Rande des Krieges 97
- Ausklang 115