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90 Die fruchtlosen Verhandlungen über den Staatsvertrag waren zermürbend,
man hatte die Hoffnung auf einen baldigen Abschluss oft schon aufgegeben,
da in den Medien wiederholt von den ergebnislosen Sitzungen und Verhand-
lungen berichtet wurde.
Die bereits erwähnte Harry Line Suite wurde, angepasst an die Wartezeit auf
den Staatsvertrag, mit dem folgenden Text unterlegt: „‚Gemma ham‘, so sagt
der erste Mann, ‚Gemma ham‘, so sagt der zweite Mann, ‚Gemma ham‘, so sagt
der dritte Mann – doch der vierte Mann, der geht nicht ham.“
Jahre zogen ins Land und langsam normalisierte sich das Leben auch in der
Stadt. Die Lebensmittel wurden reichlicher, man konnte wieder Kleider aus-
bessern oder ändern lassen oder sogar neue kaufen. Not machte erfinderisch.
So wurden aus Fallschirmseide, die sehr hochwertig war, weiße Ballonseide-
mäntel gemacht, aus alten Reifen wurden Absätze für Schuhe geschnitten –
sie waren sehr haltbar – und die Anzüge wurden gewendet, das heißt, sie
wurden voll aufgetrennt und die Innenseite des Stoffs wurde zur Außenseite,
eben gewendet. Das Kleidungsstück sah dann wie neu aus. Auch das war für
einen Witz anregend: „Ich habe meinen Anzug nochmals wenden lassen – auf
die dritte Seite.“ Aber noch immer gab es Ersatzkaffee, Ersatzseife, Papierspa-
gat, kaum Schulbücher und Schreibpapier, auf dem die Tinte nicht zerrann.
Man hatte nach fast zehn Jahren des Wartens fast schon die Hoffnung auf
einen Staatsvertag aufgegeben. Zehn Jahre nach Ende des Krieges war man
noch besetztes Land, man konnte sich nicht frei über die Demarkationslinien
bewegen, musste oft stundenlanges Warten im Zug in Kauf nehmen und im-
mer die Identitätskarte bei sich haben.
Durch ein plötzliches politisches Tauwetter zwischen der UdSSR und Öster-
reich kam an die österreichische Bundesregierung die Einladung zu einer Kon-
ferenz in Moskau. Wir haben nur erfahren, dass eine Regierungsdelegation mit
dem Flugzeug vom Militärflughafen Bad Vöslau zu Gesprächen nach Moskau
fliegen würde. Wenige Tage später kam die völlig überraschende und kaum
zu glaubende Mitteilung aus Moskau, dass wir in Kürze den Staatsvertrag er-
halten würden. Es war wie ein Wunder. Durch das Radio wurden wir von der
Ankunft der österreichischen Regierungsdelegation informiert und stürmten
dann gemeinsam mit Tausenden anderen Menschen auf die Einfallsstraßen
von Bad Vöslau bis nach Wien, bis zum Ballhausplatz. Alle gingen auf die Stra-
ße und wir standen in froher Erwartung an der Wiedner Hauptstraße bei der
Das lange Warten auf
den Staatsvertrag
Es rissen alle Stricke – doch wir überlebten
Episoden aus der Kriegs und Nachkriegszeit in Wien in einer nicht streng chronologischen Abfolge
- Title
- Es rissen alle Stricke – doch wir überlebten
- Subtitle
- Episoden aus der Kriegs und Nachkriegszeit in Wien in einer nicht streng chronologischen Abfolge
- Author
- Othmar Nestroy
- Editor
- Technischen Universität Graz
- Publisher
- Verlag der Technischen Universität Graz
- Location
- Graz
- Date
- 2020
- Language
- German
- License
- CC BY 4.0
- ISBN
- 978-3-85125-741-0
- Size
- 20.0 x 25.0 cm
- Pages
- 120
- Categories
- Geschichte Historische Aufzeichnungen
Table of contents
- Einstimmung 8
- Einleitung 11
- Politische Propaganda 13
- Spiel und Sport 19
- Der Krieg wird spürbar 23
- Die großen Wendepunkte: Der Fall von Stalingrad und von Monte Cassino, die Landung in der Normandie und das Hitler-Attentat 29
- Privater und öffentlicher Verkehr 32
- Die ersten Bomben fallen auf die Innenstadt 41
- Der totale Krieg beginnt 47
- Die Front rückt näher 57
- Die Soldaten der Roten Armee erobern Wien 61
- Das Leben normalisiert sich und der Wiederaufbau beginnt 75
- Das lange Warten auf den Staatsvertrag 89
- Nachklang 93
- Persönliche Schicksale am Rande des Krieges 97
- Ausklang 115