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freiungsschlag, konnte das Geschehen in oft noch immer erschütternde
Worte gefasst werden. Für mich selbst waren diese Schilderungen aus einer
doppelten Distanz – ich habe sie nicht unmittelbar erlebt und es liegen Jahr-
zehnte dazwischen – sehr bewegend.
Herr S.O.12 konnte ordnungsgemäß seine Mittelschulmatura mit Auszeichnung
im Jahre 1940 abschließen, wurde dann zum Reichsarbeitsdienst (RAD) in Jen-
nersdorf eingezogen und konnte noch sein Maschinenbaustudium beginnen.
Im Jahre 1941 erreichte ihn der Einberufungsbefehl. Er wurde als Gebirgsjä-
ger ausgebildet und kam zunächst nach einer langen Fahrt mit der Eisenbahn
nach Romanijemi, dann durch die Tundra zum eisfreien Nordmeerhafen Petsa-
mo in Finnland und weiter bis vor Murmansk.
Der Gefechtsstand war ein drei mal vier Meter breites und zwei Meter tiefes
Loch im Dauerfrostboden bei bis zu -30° C und trotz Stürmen und dichtem
Nebel, der in kurzer Zeit die Pelzmäntel der Wachposten mit einer dicken Eis-
schicht überzog und diese daher untragbar wurden, herrschte ein gnadenlo-
ser Krieg in der schier endlosen, weißen Landschaft. Beide Seiten trugen wei-
ße Tarnanzüge und nur durch Aneinanderschlagen der Schistöcke konnte auf
Distanz von Freund und Feind unterschieden werden.
Bei einem Aufenthalt in Murmansk konnte er auch hautnah die krassen Unter-
schiede im Leben eines Frontsoldaten und einem in der Etappe erleben, denn
viele, die Befehlsgewalt hatten, waren nie an der Front gewesen und konnten
sich die dortige Situation auch nicht vorstellen.
Es waren dies aber nur die äußeren Umstände.
Zwei einschneidende Ereignisse sollten das weitere Leben des Herrn S.O. an
der Front prägen.
Das eine war eine schwere Verwundung durch eine Gewehrgranate an der lin-
ken Gesichtshälfte, die zu einer zeitweisen Erblindung des linken Auges und
einer zerfetzten Wange, zu mehreren Operationen und einem längerem Auf-
enthalt in verschiedenen Lazaretten führte. Diese schweren Verwundungen
konnten dank des Lebenswillens von Herrn S.O. wie auch durch die Kunst der
Ärzte in überraschend kurzer Zeit geheilt werden, sodass er sich schon drei
Wochen später zur Truppe zurückmelden konnte.
12 Um die Persönlichkeitsrechte zu wahren, werden die Personen der folgenden Schilderungen nur
mit Initialien genannt.
Es rissen alle Stricke – doch wir überlebten
Episoden aus der Kriegs und Nachkriegszeit in Wien in einer nicht streng chronologischen Abfolge
- Title
- Es rissen alle Stricke – doch wir überlebten
- Subtitle
- Episoden aus der Kriegs und Nachkriegszeit in Wien in einer nicht streng chronologischen Abfolge
- Author
- Othmar Nestroy
- Editor
- Technischen Universität Graz
- Publisher
- Verlag der Technischen Universität Graz
- Location
- Graz
- Date
- 2020
- Language
- German
- License
- CC BY 4.0
- ISBN
- 978-3-85125-741-0
- Size
- 20.0 x 25.0 cm
- Pages
- 120
- Categories
- Geschichte Historische Aufzeichnungen
Table of contents
- Einstimmung 8
- Einleitung 11
- Politische Propaganda 13
- Spiel und Sport 19
- Der Krieg wird spürbar 23
- Die großen Wendepunkte: Der Fall von Stalingrad und von Monte Cassino, die Landung in der Normandie und das Hitler-Attentat 29
- Privater und öffentlicher Verkehr 32
- Die ersten Bomben fallen auf die Innenstadt 41
- Der totale Krieg beginnt 47
- Die Front rückt näher 57
- Die Soldaten der Roten Armee erobern Wien 61
- Das Leben normalisiert sich und der Wiederaufbau beginnt 75
- Das lange Warten auf den Staatsvertrag 89
- Nachklang 93
- Persönliche Schicksale am Rande des Krieges 97
- Ausklang 115