Page - 101 - in Es rissen alle Stricke – doch wir überlebten - Episoden aus der Kriegs und Nachkriegszeit in Wien in einer nicht streng chronologischen Abfolge
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Durch Zähigkeit und Ausdauer konnte Herr S.O. dann auf abenteuerliche Wei-
se nach Wien gelangen und sein Studium an der Hochschule für Bodenkultur
abschließen. Es war für die Heimkehrer nach Krieg und Gefangenschaft nicht
leicht, in das bürgerliche Leben zurückzufinden und als Mittzwanziger mit
18-Jährigen dieselbe Bank im Hörsaal zu drücken, doch eine Generation, die
unzählige Male dem Tod ins Auge gesehen hat und durch den Krieg gehärtet
war, konnte auch diese Hürde überwinden. Auch einige Professoren kamen
den Kriegsteilnehmern entgegen, derart, dass sich die erste Frage nicht auf
den Lehr- und Lernstoff bezog, sondern lautete: „Wo haben Sie gedient?“
Herr S.O. hat dann voll in dem seiner Ausbildung entsprechenden Beruf Fuß
fassen können, erreichte eine führende Position und konnte auch für seine
Familie ein schönes Daheim schaffen.
Trotz der dazwischenliegenden Jahrzehnte ist sein Geist wach geblieben, was
auch durch einen Ausspruch dokumentiert sein soll: „Denn viele können sich
nicht vorstellen, was es in der Wirklichkeit bedeutet hat, in einer Diktatur zu
leben und in einen totalen Krieg hineingezogen zu werden.“
Bei der Abfassung des Berichtes über das Schicksal des Herr K.L. war mir seine
Tochter sehr behilflich, da sie mir auch aus dem Gedächtnis zahlreiche Details
über die Vertreibung der Familie und den Wiederanfang in Deutschland mitge-
teilt hat. Ich bin ihr dafür sehr dankbar.
Herr K.L. geriet zu Kriegsende in amerikanische Gefangenschaft, aus der er
nach vielen Wochen entlassen wurde. Mit dem Entlassungsschein schlug er
sich bis Marktredwitz durch. Von dort gelang es ihm im Juli 1945, die Gren-
ze zu passieren und zu seinem Haus in Komotau, aus dem seine Familie am
2. Juli 1945 vertrieben worden war, zu gelangen. Dort hatte sich inzwischen
ein tschechischer Betriebsleiter mit Frau und zwei Kindern eingenistet. Herr
K.L. versuchte dann, an die sächsische Grenze zu kommen, um die Familie zu
suchen, doch wurde er an der Grenze in Sebastiansberg von den Tschechen
festgenommen und musste in den Lagern „Poldihütte“ und „Maltheuern“
Fürchterliches durchmachen. Wie durch ein Wunder gelang ihm die Flucht über
die tschechische Grenze nach Sachsen in die sowjetische Besatzungszone im
November 1945. Von dort flüchtete er in die britische Besatzungszone nach
Hamburg-Harburg, wo er infolge der chronischen Unterernährung schwer an
Hungerödemen erkrankte. Schließlich gelangte Herr K.L. nach Schleswig-Hol-
stein zu einem Großbauern, wo er als Knecht Arbeit finden konnte. Als nach
Es rissen alle Stricke – doch wir überlebten
Episoden aus der Kriegs und Nachkriegszeit in Wien in einer nicht streng chronologischen Abfolge
- Title
- Es rissen alle Stricke – doch wir überlebten
- Subtitle
- Episoden aus der Kriegs und Nachkriegszeit in Wien in einer nicht streng chronologischen Abfolge
- Author
- Othmar Nestroy
- Editor
- Technischen Universität Graz
- Publisher
- Verlag der Technischen Universität Graz
- Location
- Graz
- Date
- 2020
- Language
- German
- License
- CC BY 4.0
- ISBN
- 978-3-85125-741-0
- Size
- 20.0 x 25.0 cm
- Pages
- 120
- Categories
- Geschichte Historische Aufzeichnungen
Table of contents
- Einstimmung 8
- Einleitung 11
- Politische Propaganda 13
- Spiel und Sport 19
- Der Krieg wird spürbar 23
- Die großen Wendepunkte: Der Fall von Stalingrad und von Monte Cassino, die Landung in der Normandie und das Hitler-Attentat 29
- Privater und öffentlicher Verkehr 32
- Die ersten Bomben fallen auf die Innenstadt 41
- Der totale Krieg beginnt 47
- Die Front rückt näher 57
- Die Soldaten der Roten Armee erobern Wien 61
- Das Leben normalisiert sich und der Wiederaufbau beginnt 75
- Das lange Warten auf den Staatsvertrag 89
- Nachklang 93
- Persönliche Schicksale am Rande des Krieges 97
- Ausklang 115