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102 der Währungsreform im Juni 1948 die Wirtschaft Westdeutschlands wieder
anlief, meldete sich Herr K.L. zur Umsiedlung in das Aufnahmeland Nordrhein-
Westfalen und fand einen Arbeitsplatz als Heizer in einem Werk in Gevelsberg.
Es war ein glücklicher Zufall, dass er von einem Vermessungstechniker ange-
sprochen wurde, ob er mit einem Theodolit umzugehen wisse. Als Herr K.L.
dies bejahte („Das ist ja mein erlernter Beruf!“) fand er im Büro dieses Geome-
ters eine fixe Anstellung und die Basis für die weitere Lebensgestaltung. Im
Zuge dieser Arbeiten wurden im Umkreis einer deutschen Großstadt Parzellie-
rungsarbeiten für den privaten Wohnhausbau durchgeführt. Herr K.L. war mit
der Durchführung betraut. Da kam die überraschende Frage, ob er für seine
Familie ein Grundstück erwerben möchte. Nach längerem Überlegen sagte
Herr K.L. zu, erwarb mit dem Geld, das er als Lastenausgleich vom Staat
erhalten hatte, ein Grundstück und hatte den Mut und die Ausdauer, als Mitt-
fünfziger neu zu beginnen, nochmals ein Haus zu bauen und einen Garten an-
zulegen. Als sich das Wirtschaftswunder in Deutschland weiter entwickelte,
wurde für „Verdrängte Beamte“ aus dem Osten ein Gesetz erlassen, wonach
Herr K.L. mit fast 60 Jahren ein Übergangsgehalt vom Staat bekam und ab
dem 65. Lebensjahr eine staatliche Pension. So gelang es Herrn K.L. durch ei-
serne Disziplin, Sparsamkeit bei Essen, Trinken, Kleidung und Urlaub und nach
Staatenlosigkeit mit zähem Fleiß wieder den Tritt in das bürgerliche Leben zu
finden und ein neues Zuhause zu schaffen.
Er und seine Familie konnten dies lange genießen und er verstarb hochbetagt.
Herr F.H. war der Vater eines Volksschulkameraden und ein im Krieg ausge-
bildeter Flieger. Er war ein stattlicher Mann von kräftiger Statur. Im Krieg
wurde er nach Stalingrad abkommandiert und musste unzählige Einsätze
fliegen. Von meinem Schulkollegen und auch von seiner Frau erfuhr ich – zwar
nur bruchstückhaft, aber deshalb umso erschütternder – von den Kriegs-
erlebnissen des Herrn F.H. Mit der immer enger werdenden und schließlich
vollkommenen Einkesselung der deutschen Truppen in Stalingrad durch die
Rote Armee wurden die Flugeinsätze mit der JU 52 immer riskanter. Schon im
nächtlichen Anflug auf den provisorischen Flughafen geriet Herr F.H. oftmals
unter feindliches Feuer. Nach der holprigen Landung mussten in aller Eile Mu-
nition, Verpflegung und Verbandzeug aus dem Flugzeug auf der einen Seite
hinausgeworfen werden, während auf der anderen Seite Schwerverwundete
rasch in das Flugzeug gehoben wurden. Höchste Eile war geboten, denn die
feindlichen Soldaten schossen sich immer rascher auf das Flugzeug ein. Mit
Übergewicht und – nicht selten – an den Fahrgestellen hängenden Soldaten
Es rissen alle Stricke – doch wir überlebten
Episoden aus der Kriegs und Nachkriegszeit in Wien in einer nicht streng chronologischen Abfolge
- Title
- Es rissen alle Stricke – doch wir überlebten
- Subtitle
- Episoden aus der Kriegs und Nachkriegszeit in Wien in einer nicht streng chronologischen Abfolge
- Author
- Othmar Nestroy
- Editor
- Technischen Universität Graz
- Publisher
- Verlag der Technischen Universität Graz
- Location
- Graz
- Date
- 2020
- Language
- German
- License
- CC BY 4.0
- ISBN
- 978-3-85125-741-0
- Size
- 20.0 x 25.0 cm
- Pages
- 120
- Categories
- Geschichte Historische Aufzeichnungen
Table of contents
- Einstimmung 8
- Einleitung 11
- Politische Propaganda 13
- Spiel und Sport 19
- Der Krieg wird spürbar 23
- Die großen Wendepunkte: Der Fall von Stalingrad und von Monte Cassino, die Landung in der Normandie und das Hitler-Attentat 29
- Privater und öffentlicher Verkehr 32
- Die ersten Bomben fallen auf die Innenstadt 41
- Der totale Krieg beginnt 47
- Die Front rückt näher 57
- Die Soldaten der Roten Armee erobern Wien 61
- Das Leben normalisiert sich und der Wiederaufbau beginnt 75
- Das lange Warten auf den Staatsvertrag 89
- Nachklang 93
- Persönliche Schicksale am Rande des Krieges 97
- Ausklang 115