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Mit den Mitteln der Disziplin
geworden. Die Stadt der ersten Wahl ist Venedig. Man ist zu Hause und das Tage-
buchschreiben wird überflüssig (1938). Als wichtigste Devise gilt, nicht unter den
entmenschlichenden Einfluss des Nationalsozialismus zu geraten. Aber wie bereits
in Österreich ist das Gefühl der Sicherheit auch in Italien prekär („Italien hat sich
gleichgeschaltet. Wir gehen nicht hin“). Das Wetter gibt an, dass das Schicksal nicht
in den eigenen Händen liegt („… fangen d. letzten Sonnenstrahlen, die letzten, nicht
weil es Abend wird, sondern weil d. Wolken nach d. Sonne jagen. Auch am politi-
schen Himmel sind schwere Wolken aufgezogen“).
Als die politische Situation in Österreich im Frühjahr 1938 eskaliert, geht alles
Schlag auf Schlag. Die Reise, bisher Grundlage der Arbeit, mutiert zur Flucht. Tiet-
zes reihen sich ein in das Heer der Vertriebenen. Der Übergang erscheint fließend.
Und obwohl sie die Geschwindigkeit, mit der die Veränderungen stattfinden, über-
rascht, treffen sie die Vorgänge nicht unvorbereitet. Teile ihrer Existenz sind bereits
entfremdet. In anderem ist man noch an die alte Heimat gebunden, etwa durch die
in Wien verbliebenen Angehörigen, das Wohnhaus in der Armbrustergasse oder ver-
schiedene Arbeitsverpflichtungen. Nun gilt es, mit allen Mitteln dagegen anzukämp-
fen, selbst zum Bittsteller zu werden („Haben also d. Leute etwa 45 Pfund erspart,
was einem Österr[eicher] mit Minderwertigkeitsgefühlen ein sehr angenehmer Ge-
danke ist.“
– „Wir sind vielleicht zu Gast, aber nicht sicher“).
Während Europa zum Krieg rüstet, wird Erica Tietze-Conrats Disziplin – die
Kunstgeschichte – zum Bollwerk („Das Hundsgestirn regiert u. wir wehren uns da-
gegen mit d. Energien unserer Disziplin u. d. Klugheit“). Die Kunstforschung si-
chert den wichtigsten Halt und bei aller Entrechtung zumindest die „Bewahrung
ihrer Identität als Wissenschaftler“12. Schlimme Nachrichten von Verwandten und
Freunden erreichen sie – und immer wieder erfährt man von Selbstmorden aus Ver-
zweiflung. Die Ängste um die nächsten Angehörigen sind quälend. Die Lage wird
so bedrückend, dass Erica Tietze-Conrat nun selbst in abergläubisches, magisches
Denken verfällt („Wenn ich ein Geldstück find, ist das ein gutes Zeichen. Ich hab
zuhause auf der Bettdecke 50 ct. gefunden !“). Und prompt kommt die befreiende
Nachricht ! Gemeinsam mit zwei Genossen ist Burgl auf Skiern die Flucht über die
Alpen in die Schweiz gelungen. Man kann aufatmen und verbringt den Tag aus-
nahmsweise „unkunsthistorisch“ („Nur in d. Borghesegalerie waren wir“). Mit dem
persönlichen Schicksal findet man sich erstaunlich schnell ab („Jetzt noch ein Schlaf-
mittel u. morgen wollen wir dann nach dieser Woche der Chocs u. Ängste ein neues
Leben anfangen“).
Die Geborgenheit in der Arbeit wird nun auf eine harte Probe gestellt – und be-
währt sich stets aufs Neue („Wir waren furchtbar deprimiert und haben uns in die
kunstgeschichtliche Seite der Sehenswürdigkeiten verbissen“). Die Tage laufen nach
einem festen Muster ab. Man könnte meinen, die Reise diene nur mehr zur Ver-
gewisserung, dass die Kirche noch an ihrem angestammten Platz steht. Die größte
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Erica Tietze-Conrat
Tagebücher, Volume II: Mit den Mitteln der Disziplin (1937–1938)
Entnommena aus FWF-E-Book-Library
- Title
- Erica Tietze-Conrat
- Subtitle
- Tagebücher
- Volume
- II: Mit den Mitteln der Disziplin (1937–1938)
- Editor
- Alexandra Caruso
- Publisher
- Böhlau Verlag
- Location
- Wien
- Date
- 2015
- Language
- German
- License
- CC BY-NC-ND 3.0
- ISBN
- 978-3-205-79545-2
- Size
- 17.0 x 24.0 cm
- Pages
- 346
- Category
- Biographien