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Tagebuch 1937/2
sere Streckstühle an einem Sonntag Nachmittag daheim in den Garten gestellt ! Das
einzige vielleicht Negative ist, daß wir von der Sonne ziemlich aufgezogen sind …
Merkwürdig ist das mit d. Uhr : in Haarlem rutschten wir von Freitag auf Samstag in
d. Sommerzeit und hier, wo wir schon lange Sommerzeit haben, müssen wir d. Uh-
ren um 20 Minuten zurückschieben. Gerade haben wir unsere fünfte Grenze über-
schritten ; beim Gepäck war das ganz ohne Belästigung, anders beim Pass. Was wir
vorhaben ? To study in the Brit[ish] Mus[eum]. Der Beamte unendlich misstrauisch :
To study ? ? Er wollte wissen, was wir studieren. Ob wir Einführungsbriefe haben, ob
Hans Urlaub von d. Universität hat, was „Ministerialrat“ beim Pass bedeutet, wie viel
Geld wir haben, wer es für uns aufbewahre, ob wir wieder nach Wien zurückkehren
würden u. s. f. Schließlich fragte er, ob Hans ihm nicht eine Visitkarte zeigen könne,
prüfte sie lange – u. gab sich zufrieden. Wie mag hier manchem das Herz gebebt ha-
ben, der nicht wie wir ganz ohne Absicht kam !
24. [Mai]
Unser erster Londoner Tag geht zuende ! Was haben wir nicht alles schon gearbeitet !
Aber es geht so selbstverständlich u. ohne Hast, daß man es kaum merkt. Schon d.
Ankunft gestern abends. Da war sofort ein Träger da u. ebenso sofort war man aus d.
Bahnhof draußen im Taxi. Die lange Fahrt von Liverpool Station stand noch ganz
im Zeichen d. Coronation ; alles ist noch beflaggt u. beleuchtet und straßenlang gibt
es noch Tribünen aufgestellt, denn es sollte noch d. Dankgottesdienst in St. Pauls
als Abschlussfeier erfolgen. Ganz zu Beginn von Holland Road blieb unser Wagen
stehen, der Chauffeur kam verlegen ans Fenster er sei dry. Weg[en] 18 Häusern
– wir
wohnen auf 39
– mussten wir einen anderen Wagen nehmen
…
Unser Zimmer liegt im Gartenniveau u. öffnet sich auch durch eine große Glas-
türe hinaus ; da d. Garten von einer hohen Mauer umgeben ist, schlafen wir bei of-
fener Türe. Die Dame d. Hauses u. ihre Tochter – sie lernt auf Pottery u. Sculpture –
sind mager wie nur Engländerinnen sein können ; das Lächeln, das sie für jeden Satz
(wie Weitsichtige d. Zwicker zum Lesen) aufsetzen, wirkt geisterhaft u. peinlich auf d.
verhungerten Gesicht. Das Zimmer ist ein sog. bed- and sittingroom, zwei niedrige
Couches, zwei Waschtische etc. in d. einen Hälfte, die Fauteuils u. Tische in der al-
kovenartig abgetrennten anderen ; es ist von den übrigen, in mehrere Stockwerke ver-
teilten Hausbewohnern ganz abgetrennt. Noch immer gibt es keinen Bus, wir haben
uns eine Wochenkarte auf d. Underground gekauft, es war lange nicht so crowded,
wie wir gefürchtet hatten. Im British Museum empfing uns erst Popham u. führte
uns sogleich auf d. Gallerie zu d. Zeichnungen, die wir – ebenso wie die Bücher –
uns alleine herausnehmen dürfen. Niemand kümmert sich ; idealstes Arbeiten ! Später
kam Hind, der sehr krank noch aussieht. Wir machten eine kurze Mittagspause in
einem d. lunchrooms um d. Museum, in dem d. Servierenden ihre Damenhaftigkeit
dadurch betonen, daß sie d. Zigarette nicht aus dem Mund gaben. Wir (und nicht
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Erica Tietze-Conrat
Tagebücher, Volume II: Mit den Mitteln der Disziplin (1937–1938)
Entnommena aus FWF-E-Book-Library
- Title
- Erica Tietze-Conrat
- Subtitle
- Tagebücher
- Volume
- II: Mit den Mitteln der Disziplin (1937–1938)
- Editor
- Alexandra Caruso
- Publisher
- Böhlau Verlag
- Location
- Wien
- Date
- 2015
- Language
- German
- License
- CC BY-NC-ND 3.0
- ISBN
- 978-3-205-79545-2
- Size
- 17.0 x 24.0 cm
- Pages
- 346
- Category
- Biographien