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Tagebuch 1937/2
entpuppt. In Gidea Park war Mrs. Hartley u. beide Töchter an d. Bahn. Sie wohnen
nicht weit in einem kleinen richtigen englischen Häuschen mit einem sehr langen
Rasenstreifen dahinter auf dem köstliche Sitzgelegenheiten stehen, Blumenbeeten an
den Rändern u. am Ende, zwischen denen mit taktvollem architektonischem Gefühl
über Steinpfeiler eine Sonnenuhr (sie funktioniert nicht) aufsteht. Ich ruhte mich –
es war wieder the hottest day of the year, wie d. headlines konstatierten – auf einem
Feldbett aus, das noch aus der Garderobe des (im Kriege „vermißten“) Vaters stammt.
Wir dinierten dann im Freien einen kalten Aufschnitt mit Salat, Gelée und Kompott
u. Käse, das Kochbare von Mrs Hartley gekocht u. alles mit Liebe u. Vorsorglichkeit
reichlich u. freundlich angerichtet, bis es uns chilly wurde und wir den Kaffee dann
im Hause tranken. Es war sehr nett u. wäre noch viel ausruhender gewesen, wenn auf
den angestrengten Tag ein etwas schweigsameres Beisammensein hätte folgen kön-
nen u. mein Ehrgeiz mich nicht in so anspannende englische Probleme gelockt hätte.
Um ½ 10 brachen wir auf u. waren um 11 zuhause. Ich hab im Zug schon ein wenig
vorgeschlafen. Da d. Zug, in Liverpoolstation an eine Mauer stößt, war keine Gefahr,
d. Aussteigen in London zu versäumen. – Prof. Adler, d. Individualpsycholog, starb
in Edinburgh. Die Blätter widmen ihm Nachrufe, die er in Wien kaum bekommen
hätte
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Dieses Weekend steht im Zeichen des „Bathing“, daß wir an diesen Dingen kei-
nen Anteil nehmen, zeigt wieder einmal d. Einseitigkeit
– Kleinseitigkeit
– mit der
unsereins eine fremde Stadt aufnimmt. – Abends. Das war ein feiner Ausruhetag.
Wie im Nu sind d. Vormittagsstunden im Garten mit Briefschreiben etc. verflo-
gen ! Zumittag haben wir (um 1h) zuhause gedinnert. Dann gleich in d. Wallace
Coll[ection]. Es war furchtbar schwül, die Bilder alle verglast, die ganze Aufma-
chung quälend. Nun, wir habens eine Stunde ausgehalten. Dann mit Bus Regent
Park entlang nach Gloucester Road zu Dr Scharf. Stille nette Leute, eigentlich
ein Österreicher, der aber seit seinem 5. Jahr in Berlin lebte, zuletzt am Kais[er]
Fr[iedrich] Mus[eum] volontierte u. seit 4 Jahren in London ist. Die Frau gibt hier
Stunden, er scheint für einen Corpus (Antiken in Z[eichnung]en u. Stichreproduk-
tionen), das er breit vorbereitet, etwas von d. Warburgbibl[iothek] zu bekommen.
Daneben treibt er wohl mit Zeichnungen (verschämt) Handel. Die er uns gezeigt
hat, waren – bis auf eine von Tintoretto, deren Photo er uns versprach – nicht für
uns geeignet. Aber zur Beglaubigung einer Z[eichnung] hatte er eine Photo[graphie]
da nach einer prachtvollen Dogenpal[ast]komp[osition] von Vicentino, einer Skizze
in hiesigem Privatbesitz. Wir baten ihn beim Besitzer ein Photo für uns zu er-
wirken (er tat geheimnisvoll od[er] nur diskret ?). Um eine andre Photogr[aphie]
nach einer Z[eichnung] (die Scharf nach Paris an Dr Wertheimer abgegeben hat)
schreiben wir direkt. Wir bekamen eine Jause, die alles was wir bisher hier an Gas-
tronomischem erfahren haben, himmelweit zurückließ. Zurück lange zufuß durch
Regent Park, wo noch die Camps von Soldaten, die zur Krönung gekommen waren,
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Erica Tietze-Conrat
Tagebücher, Volume II: Mit den Mitteln der Disziplin (1937–1938)
Entnommena aus FWF-E-Book-Library
- Title
- Erica Tietze-Conrat
- Subtitle
- Tagebücher
- Volume
- II: Mit den Mitteln der Disziplin (1937–1938)
- Editor
- Alexandra Caruso
- Publisher
- Böhlau Verlag
- Location
- Wien
- Date
- 2015
- Language
- German
- License
- CC BY-NC-ND 3.0
- ISBN
- 978-3-205-79545-2
- Size
- 17.0 x 24.0 cm
- Pages
- 346
- Category
- Biographien