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Tagebuch 1937/2
d. Komp[osition] auch überdies sehr bekannt vor, vor allem erinnere ich mich an d.
Gitter im Fußboden vorn, in das ein Gefangener á la Michelangelo hinuntergreift,
während d. Oberkörper eines anderen (vom untern Stockwerk her) daraus hervor-
ragt. Wir bekommen d. Blatt ins Brit[ish] Mus[eum], um eine Aufnahme machen zu
können. Nach d. Papierlessen am Eingang ins Brit[ish] M[useum] trennten wir uns,
Hans ging allein zum Zahnarzt Rudolph photogr[aphieren], ich blieb im Printroom.
Nachher trennten wir uns wiederum, Hans ging zu einem Vortrag d. Borenius, ich
tee-te mit Mrs Hartley und – da es feuchtelte – besuchte ein Kino, Green lights, das
wirklich nur durch d. „Fenster“ u. d. Regen entschuldigt werden konnte. Sentimental
zum Kotzen u. langweilig dazu. Schließlich „our party“ bei Gennaro, in einem sehr
gut[en] ital[ienischen] Restaurant mit Burgs u. Christine. Richtig italienisch geges-
sen, angenehm gelüftete Räume (New Compton Street), nicht teuer. Ein Stündchen
Nachsitzen in d. Hall d. Thackeray Hôtels, die sich langsam zu unserem Ausruh-
Club entwickelt. Bequeme Heimfahrt mit d. 73er Bus. Dünn geschlafen, alle Vögel
gehört.
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Noch spät abends. Eben Blitz Donner Wolkenbruch. Herrlich ! Den ganzen Tag
hat sichs hingezogen, wir waren schon ganz zermürbt davon.
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Ein ganz voller Tag wieder. Früh einen Sprung zu Rob[ert] Frank, der aber nichts
da hatte u. mit seinem Geschäftskollegen Bottenwieser erst das Material vorberei-
ten wollte (Verabredung für nächst[en] Dienstag). Dann zu Harris (spanische Ga-
lerie), wo wir mehrere Tintorettozeichn[ung]en sahen, aber mittendrin abbrechen
mußten, da es für uns Zeit war ins Bridgewater House zu eilen. Ach, wie schwer
war dieses Eilen, da die Sonne schon durchgebrochen war u. sich über unsre Män-
tel lustig machte ! Ist das eine prachtvolle Sammlung u. wie vornehm geschmacklos
ihr Rahmen ! Da ist unten ein Riesensaal mit Marmorboden u. vielleicht 60 Büsten
u. Figuren in schrecklichem weißen Marmor u. von erschütternder Qualität herum.
Wenn dazwischen nicht ebenso viele prachtvolle blaue Blumen gewesen wären, wäre
es noch schwerer zu verdauen gewesen. Aber wie gleichgültig gegen d. Bilder, die
uns der „Keeper“ Thomson dann zeigte. Die Bridgewater Madonna, noch andre Raf-
faels erster u. zweiter Güte, ein Tintorettoporträt (das nicht sehr erfreulich ist) ein
allerliebster kleiner Maes, eine einfadelnde* Frau vor einer Landkarte. Aber das war
nur unten. Das eigentliche ist erst oben – wenigstens für uns ; erst im Umgang um
d. Halle Poussinsche Sakramenti, kürzlich erst neu geputzt. Von außerordentlicher
farbiger Qualität u. Reinheit. Wirklich so, daß man verstehen kann, was für einen
Einfluß dieser Maler hatte. Und dann die eigentliche Gallerie. Dieses Aktäonbild Ti-
zians (wie sein Pendant eben auch gereinigt) ist das kühnste das man sich vorstellen
kann. Die Körper viel weniger abstrakt wie man sich das beim alten Tizian vorstellt,
alles noch ganz bis ins letzte durchgefühlt, durchgezittert und durchgeschüttelt, die
* einfädelnd
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Erica Tietze-Conrat
Tagebücher, Volume II: Mit den Mitteln der Disziplin (1937–1938)
Entnommena aus FWF-E-Book-Library
- Title
- Erica Tietze-Conrat
- Subtitle
- Tagebücher
- Volume
- II: Mit den Mitteln der Disziplin (1937–1938)
- Editor
- Alexandra Caruso
- Publisher
- Böhlau Verlag
- Location
- Wien
- Date
- 2015
- Language
- German
- License
- CC BY-NC-ND 3.0
- ISBN
- 978-3-205-79545-2
- Size
- 17.0 x 24.0 cm
- Pages
- 346
- Category
- Biographien