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Tagebuch 1937/2
13. [Juni]
Nach dem Frühstück (nicht London, sondern) Scarbank House, Swanage, Dorset zu
Weekend bei A. G. B. Russel, dem Lancaster Herald. Wir sind gestern fast schon
im Morgengrauen aufgestanden u. um 8h30 in Waterloo Station abgefahren. Sehr
voll, lauter Weekendleute. Fast vier Stunden dauert d. Reise, das letzte Stück in sehr
freundlicher Landschaft. Föhren, grünste Wiese, Hügel mit altem Gemäuer u. immer
wieder Ausblicke aufs Meer. In Swanage wartete d. Wagen mit dem Hausherrn drin-
nen u. seiner Housekeeperin, die ohne Hut, aber mit weißen Handschuhen (nur mit
How do you do, aber ohne Vorstellung) chauffierte. Man fährt durch d. Ort, der ein
richtiger Sommerfrischlerort ist, hinaus in die Wildnis ; hinaus u. bißchen hinauf, wo
man nach einem Viertelstündchen u. weniger schon d. Haus sieht. Vor etwa 10 Jah-
ren gebaut, ganz aus Stein, aus zwei ebenerdigen Flügeln bestehend, zwischen denen
ein einstöckiger Mittelteil – wie der Balken im H die Verbindung herstellt. Der eine
Flügel ist The boys wing, der in den vielen Monaten, die diese fort sind, einfach aus
d. Betrieb ausgeschaltet werden kann. Der Bauplan ergibt eine wundervolle Einfahrt
nach d. einen Seite
– mit einer großen Bleifigur, englisch, 18. auf dem Türbalken
– und
eine noch wundervollere Terrasse nach der andern Seite. Und weil d. Terrain nach die-
ser andern Seite absinkt, ergibt es noch eine an dem einen Flügel zum Ausgleich mit
d. Terrain angebaute Porch ; auf d. Dach d. Flügel aber ist nicht nur ein luft- u. licht- u.
windvolles Hinaustreten möglich, sondern ein richtiges ausgreifendes Auf- u. Abge-
hen, denn nirgends ist mit d. Raum gespart u. der ganze große Steinorganismus dieses
Hauses wächst mit langsam u. tiefgezogenem Atem aus dem sanften Hügel heraus.
Drinnen ist alles u. mehr, als der englische hohe Lebensstandard benötigt. Warmwas-
serheizung u. Elektrizität, die sie selbst erzeugen u. Blumen, wohin man blickt. Im
oberen Zimmer d. Mitteltraktes ist das Museum. Die ausgezeichneten Zeichnungen
an d. Wänden, die d. Besitzer sich aus seinen verschiedenen Verkäufen zurückbehalten
[…] und von denen vor allem der Ruderer von Veronese einen Eindruck macht, der d.
Lichtdruck u. d. Photo weit zurückläßt. Bei diesen könnte man an Tintoretto denken,
von dem Original ist nichts davon zu spüren ; das ist die Seide u. Atmosphäre, das
Mithereinbeziehen d. Farbe
– d. Hände sind leicht getönt
– Veroneses. Hier ist auch d.
Marmorrelief, das wir nach der Photogr[aphie] als Michelangelo ansprachen. Vor dem
Original tun wir es vielleicht noch immer, aber mit d. Bewußtsein, daß Michelangelos
Autorschaft nicht in d. Augen springt, (was in diesem Fall nicht nur heißen will, daß d.
Relief keinen geläufigen Zug Michelangelos wieder bringt), sondern bewiesen werden
muß. Es ist ein Jugendwerk, in dem die Madonna an d. Treppe u. d. Zentaurenschlacht
schon ihre Wurzeln haben, vor allem aber d. Marsyasrelief seinen Verwandten. (Als
besondere Stücke d. Museums nenn ich noch d. Lottozeichn[ung], die immer noch
ein Puzzle bleibt, den Tiziankopf u. die „von Hadeln anerkannte“ (aber nie publizierte
Landschaft), die wir – d. Landschaft – nicht einmal in unsere Kartothek aufnehmen ;
schließlich diese Anbetung d. Hirten, eine kleine Aquarellmalerei, ganz dunkel ge-
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Erica Tietze-Conrat
Tagebücher, Volume II: Mit den Mitteln der Disziplin (1937–1938)
Entnommena aus FWF-E-Book-Library
- Title
- Erica Tietze-Conrat
- Subtitle
- Tagebücher
- Volume
- II: Mit den Mitteln der Disziplin (1937–1938)
- Editor
- Alexandra Caruso
- Publisher
- Böhlau Verlag
- Location
- Wien
- Date
- 2015
- Language
- German
- License
- CC BY-NC-ND 3.0
- ISBN
- 978-3-205-79545-2
- Size
- 17.0 x 24.0 cm
- Pages
- 346
- Category
- Biographien