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Tagebuch 1937/2
Zahnweh. Er nahm uns dann in seinem Wagen in sein Haus mit, wir tranken im
Garten Kaffee (Fr. Dr. Bing, die mit ihm wohnt, machte die Hausfrau, Saxls Tochter
war auch dabei, aber nur eine Stumme Rolle – leider keine unsichtbare !). Es wurde
dann ein ganz gemütlicher kunsthistorischer Stammtischnachmittag, der sich bis ge-
gen 7 hinzog. Wir konnten (nach einem furchtbaren Wolkenbruch u. Gewitter) dann
leider nicht nachhaus, ich war furchtbar abgespannt. Fuhren zum Regent Park, wo wir
in einem der entzückenden Häusern (von Nash um 1820 gebaut) in einem Flat bei
Basil Gray nachtmahlten. Die Frau (Tochter Binyons) ist ebenso reizend zum An-
schauen wie reizend als Mensch. Sie arbeitet über langobard[ische] Inschriften, kein
Corpus, aber immerhin, hat d. Haare straff mit einem Kamm zurückgehalten wie ein
braves Mäderl in einer Klosterschule. Das steht ihr so persönlich. Die beiden Kinder
(Baby-Mäderl u. dreijähr[iger] Bub, wir sahen sie nur schlafend) sind ganz oben in
einer Art Dachgeschoß untergebracht, in dem Flat darunter wohnen andere Leute.
Da die Nurse sehr zuverlässig ausschaut, wird sie wohl viel Zeit für ihre Inschriften
verwenden können.
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Ich war vom späten English-reden so erschöpft, daß ich die ganze Nacht nicht
schlafen konnte. Erst lange nachdem es hell geworden ist u. d. Vögeln schon ausge-
sungen hatten, schlief ich ein. Trotzdem hab ich denn gestern bei Witt gut gearbeitet
(Hans hat photographiert) ; zuerst über die Francesco di Giorgiozeichnung Lugts,
dann viele Bassanozeichn[un]gen identifiziert, auch eine bei Mrs. Rayner-Wood, ein
Christkind, das wir erst sehen sollen. Wir haben bei Dodgson geluncht, das ist nur
paar Schritte von Witt entfernt (d. Frau war nicht in London) und seine neue er-
worbene Rötelzeichn[ung] von Baldung bewundert ; er hat sie kurz vor d. Oppen-
heimerauktion in dem Warwick-Sale um 16 Pf. erworben, da sie schlecht beschrie-
ben war (nur als „German“) u. niemand sie beachtet hatte. Es ist eines d. schönsten
deutschen Blätter (ein bärtiger Kopf vor einem bartlosen, sehr groß). Gleich nach d.
Lunch fuhren wir zwei Stunden mit Dodgson in seinem Wagen nach Donnington
Priory zu Gathorne-Hardy. Das ist über Ascot hinaus, eine sehr nette Fahrt, bei schö-
nem Wetter u. im offenen Wagen wirklich sehr erquicklich. Auch dort war die Frau
nicht daheim (sie mußte zum Zahnarzt nach London), aber der Hausherr, der als
Schwiegersohn von Malcolm die paar außerordentlichen Blätter der S[amm]l[un]g
hütet. Wirklich hütet, nicht eines ist verkauft worden
– u. was für Werte sind es doch !
Es war ein eindrucksvolles Milieu. Der große Landedelmann der gerne Forellen im
Bach fängt, der durch seinen Garten fließt. Und wie schön ist dieser Garten, der
als richtiger „englischer“ anfängt dann mit einem Wäldchen in seine Nutzabteilung
überleitet, in der an Stangen Sweetpeas gezogen werden u. bunte Blumenbeete die
Gemüseäcker kaschieren. Ziegelmauern sind durchgezogen, damit d. Edelobst eine
geschützte Rückenwand finde u. die letzte dieser Mauern hat eine Tür, die geradeaus
in die Stallgebiete führte. Wir machten die Türe auf, Dodgson u. ich, da sahen wir vor
uns den Ausblick auf eine Kuh, das heißt nur auf d. hintere Hälfte einer Kuh, denn
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Erica Tietze-Conrat
Tagebücher, Volume II: Mit den Mitteln der Disziplin (1937–1938)
Entnommena aus FWF-E-Book-Library
- Title
- Erica Tietze-Conrat
- Subtitle
- Tagebücher
- Volume
- II: Mit den Mitteln der Disziplin (1937–1938)
- Editor
- Alexandra Caruso
- Publisher
- Böhlau Verlag
- Location
- Wien
- Date
- 2015
- Language
- German
- License
- CC BY-NC-ND 3.0
- ISBN
- 978-3-205-79545-2
- Size
- 17.0 x 24.0 cm
- Pages
- 346
- Category
- Biographien