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Tagebuch 1937/2
ehesten wie ein Tizian aussieht, aber für mein Gefühl doch wieder nicht so ganz
wie ein Tizian. Es ist doch etwas härter gemalt u. stärker sentimental als Tizian um
diese Zeit gewesen wäre. Aber ein ganz erstklassiges Bild. Sehr gut auch u. wohl
erhalten eine Kreuzabnahme vom Bartholomäusmeister mit einem Schergen – oder
sonst was – Figur ganz oben (der Christus herunterläßt), spreizig u. turnerisch wie
eine Weberknechtspinne. (Ja richtig im Kinderzimmer bei Lord Allendale war ein
entzückendes datiertes u. signiertes Bild von […], merkwürdig venezianisierend ein
Motiv der großen Figur vorn ; darunter stand ein von einem Drahtgitter umgebenes
Körbchen auf der Erde, drin ein Hündchen, flaumig weiß
…70
Wir hatten Mittag mit Christine Rendez-vous in einem netten italien[ischen] Lo-
kal (Vajano) in d. Charlotte Street. Wir haben ihr von Burgel erzählt u. sie gab uns
Ratschläge, falls sie herkommen will
…
Dann zu Witt, wo ich mich mit Veronesephotos beschäftigte. Das „Giorgione“bild
von Frankfurt ist in einer Photo[graphie] (E[duard] Plietzsch, Berlin 1936) (in über-
maltem Zustand) dort ; wenn das nun ein Giorgione ist, dann muß d. Zeich[nung] in
Berlin mit d. Bauernhäusern, die so „dilettantisch 17.“ ausschaut, nicht zu weit von
ihm sein
…71
Um ½ 5 trafen wir uns mit allen Hartleys beim Tee ; wir gaben uns alle Mühe
heiter zu sein, was uns alten, die wir einen Krieg schon erlebt hatten, nicht leicht
fiel. Die Headlines sind nicht sehr beunruhigend u. man sieht eigentlich gar nicht,
wie die Katastrophe noch aufgehalten werden kann. Deutschland u. Italien aus d.
Kontrollverband ausgetreten, behalten sich alle weiteren Schritte in Spanien vor. Am
Nachhauseweg haben wir uns bei Cook das Rundreisebillet für Irland – Schottland
bestellt ; ich habe direkt ein Gefühl d. Erleichterung wenn ich denke, daß wir damit
noch weiter wegkommen – als ob man überhaupt wegkönnte, heraus könnte wenns
zum Klappen käme u. nicht jeder darin gefangen wäre
…
24. [Juni]
Gestern hab ich geglaubt, früh schlafen gehen zu können, aber das hat unser guter
Oppé vereitelt, der eine Bassanozeichn[ung] für sich oder seinen canadischen Auf-
traggeber kaufen wollte, aber erst unsre Meinung darüber hören wollte
…
Wir fuhren also am späten abend hin, aber die Z[eichnung] war nicht den (eng l[i-
schen]) Shilling Fahrspesen wert. Heut früh haben sich unsre Wege getrennt, Hans ist
nach Salisbury, ich zu Sir Witt, wo ich sehr erfolgreich war (Veronese). Zum Dank
für unsre Aufnahme hab ich der Lady Witt heute den englischen „Tizian“ überreicht.
Ich hab mich in d. Mittagspause u. dann nach Arbeitsende fleißig im Grünen ausge-
laufen, bin durch u. durch gegangen, auch ein Weilchen an d. Springbrunnen weiter,
der um das Jennerdenkmal angelegt ist, hin gesetzt. Die Unbegabtheit dieser Nation
für alles was über d. Bedarfsartikel hinausgeht, ist phantastisch. Die ganze Anlage ist
wie von einem Preisausschreiben für neue Ankersteinbaukastenvorlagen in die schöne
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Erica Tietze-Conrat
Tagebücher, Volume II: Mit den Mitteln der Disziplin (1937–1938)
Entnommena aus FWF-E-Book-Library
- Title
- Erica Tietze-Conrat
- Subtitle
- Tagebücher
- Volume
- II: Mit den Mitteln der Disziplin (1937–1938)
- Editor
- Alexandra Caruso
- Publisher
- Böhlau Verlag
- Location
- Wien
- Date
- 2015
- Language
- German
- License
- CC BY-NC-ND 3.0
- ISBN
- 978-3-205-79545-2
- Size
- 17.0 x 24.0 cm
- Pages
- 346
- Category
- Biographien